Runlandsaga - Wolfzeit
der Stirn. »Wenn ich mich recht erinnere, lag es rechts hinter dem Tempel.«
Ohne eine Antwort seines Freundes abzuwarten, setzte er sich wieder in Bewegung. Pándaros folgte ihm. Er verspürte bei jedem Einatmen spitze Stiche in der Seite, versuchte aber weiter so gut wie möglich mit dem Archivar Schritt zu halten. Der Lärm der sie verfolgenden Menge hatte ein wenig abgenommen, doch die beiden Priester fühlten sich nicht im Geringsten sicher.
Endlich erreichten sie eine weite Lücke in der Mauer zu ihrer Linken, die sich als Tillérnas nördlicher Eingang herausstellte. Kein Stadttor hing mehr in den verrosteten eisernen Angeln. Was aus der Pforte geworden war, behielt die uralte Ruine für sich. Pándaros und Deneb eilten in den Durchgang hinein und liefen auf der anderen Seite eine schwach ansteigende steinerne Rampe hinauf. Schräg darunter schimmerte die Wasseroberfläche des Lilin matt in der mondbeschienenen Nacht.
Hinter ihnen nahmen die Rufe und die polternden Schritte ihrer Verfolger wieder zu. Deneb wagte einen Blick über die Schulter und blieb beinahe vor Schreck stehen. »Oh nein! Sie haben uns entdeckt!«
Pándaros ergriff seinen Arm und zog ihn weiter. Er wollte sich nicht umsehen. Was er hören konnte, erschreckte ihn schon genug. Die Flammenzungen kamen durch den Nordeingang zur Stadt gerannt. Das Echo ihrer Schritte verstärkte sich im Durchgang und dröhnte zu Deneb und ihm herüber.
»Da vorne sind sie!«, kreischte eine hohe Stimme. Erregte Schreie begleiteten ihren Ausruf und feuerten sich gegenseitig an. Pándaros bemühte sich so gut er es vermochte, schneller zu werden, doch vergebens. Er fühlte sich so erschöpft wie selten zuvor in seinem Leben. Selbst nach seiner Jagd auf den Yarn war er nicht so erledigt gewesen. Ein Teil von ihm verspürte deswegen fast Erleichterung, als er bemerkte, dass die Brücke über den Lilin, die sie wie von Sinnen entlang hasteten, dicht vor ihnen endete. Deneb wäre beinahe über den brüchigen Rand hinaus gelaufen, wenn Pándaros ihn nicht mit einem Schrei zurückgerissen hätte. Entgeistert stierte der kleine Archivar hinab in die Tiefe.
»Was – was sollen wir jetzt tun?«, stammelte er hilflos.
Sein Kamerad schwieg. Nun, da sie nahe genug herangekommen waren, konnten sie sehen, dass die Brücke etwa in ihrer Mitte eingestürzt war. Eine Lücke von gut zehn Fuß Breite klaffte direkt vor ihnen. Das andere Ende der Brücke war unerreichbar für sie.
Pándaros schätzte, dass ein junger Mann ohne schweres Gepäck auf dem Rücken die Kluft bestimmt überwinden konnte. Aber sie waren beide keine jungen Männer mehr. Die unglaubliche Sorglosigkeit ihres Unterfangens traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht, während die Flammenzungen unter hasserfülltem Geschrei ihren Abstand zu ihnen mit jedem Moment verringerten. Er war so bodenlos einfältig und vor allem eingebildet gewesen, zu glauben, er könne ein Abenteuer wie dieses bestreiten, das die Kraft eines Kämpfers im besten Alter beansprucht hätte. Aber das Schlimmste war: Er hatte zugelassen, dass sich Deneb ihm anschloss. Deneb, der die Welt außerhalb von T´lar nur aus Büchern kannte. Das war seine größte Schuld.
Hilflos starrte er vom unerreichbaren anderen Ende der Brücke zum angsterfüllten Gesicht seines Freundes.
»Es tut mir so leid!«, rief er verzweifelt. »Ich hab dich da hineingeritten.«
Aus den Augenwinkeln sah er, wie die nächtlichen Schatten hinter ihnen lebendig wurden. Er hörte ihre Verfolger die Rampe hinaufstürmen. Hoffentlich waren die Dreckskerle wenigstens so wütend, dass sie mit ihnen kein langes Federlesen veranstalten ...
Da ergriff Deneb seine Hand. Die Augen des kleinen Mannes leuchteten im Mondlicht – das einzig Freundliche in dieser Welt aus Irrsinn, Blut und Gewalt um sie herum.
»Es muss dir nichts leid tun«, sagte er mit klarer Stimme, aus der alle Angst gewichen zu sein schien. »Es war mein eigener Wunsch, mit dir zu kommen, und ich bereue nichts. Wenn ich zu Hause geblieben wäre, hätte ich Aphnat niemals zu sehen bekommen, und auch Tillérna nicht. – Kannst du schwimmen?«
Verblüfft nickte Pándaros.
»Dann los!«, rief Deneb. »Ein Weg steht uns noch offen.«
»Warte!«, schrie Pándaros. »Das ist nicht dein ...«
Bevor er seinen Satz zu Ende bringen konnte, war Deneb über die Bruchkante der Brücke gesprungen. Ein lautes Platschen ertönte. Die Menge hinter ihm stürmte schreiend heran, um ihn zu ergreifen.
»... dein Ernst ...«,
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