Runterschalten
gehen nämlich von der Illusion aus, jeder könne souverän über seine Zeit innerhalb des hochvernetzten gesellschaftlichen Systems bestimmen. Arbeiten, Leben und Lieben, wie und wann es Biorhythmus und Lust gerade gut heißen – wer kann das schon?
Das Wort „Freizeit“ stimmt nicht mehr, haben wir gesehen. Bis in die letzten Rückzugsräume ist unser Leben durchgetaktet, frei und selbst bestimmte Zeit scheint es kaum mehr zu geben.
Echter Wohlstand ist also immer auch Zeitwohlstand. Den haben wir dann, wenn wir verfügbare Zeit haben, über die nicht verfügt wird. Zeitwohlstand ist gerade die Zeit der Ineffizienz, die Zeit, die nicht auf den Nutzen achtet.
Allerdings ist „nutzlose Zeit“ auch die Art von Zeit, mit der ein moderner Echtzeitmensch so gar nichts anzufangen weiß. Er ist aufs Zeitsparen getrimmt, gegenüber Zeitgewinn oder gar Zeitüberfluss ist er ratlos. Moderne Arbeitsbienen suchen gefüllte statt erfüllter Zeit. Selbst die „Freizeit“ von Schatz und Schatz muss Minute für Minute durchgeplant sein, ein „Event“ folgt dem nächsten. In Momenten des „Leerlaufs“ entsteht Langeweile. Dabei ist Langeweile nur die andere Seite der Hektik, die Leere nämlich, gerade nicht so rasch produzieren und konsumieren zu können, wie man es gewohnt ist.
Arbeiten: Augen zu und durch!
Vom „Leben und Arbeiten in Echtzeit“haben wir jetzt eine Seite, nämlich das Leben eingehend betrachtet. Eigenständigkeit und Selbstverantwortlichkeit können keine Produkte dieses Lebensstils sein. Wo Tempo zur Norm wird, entstehen Norm-Leben und Norm-Karrieren.
Was ich hier Norm-Karriere nenne, steht stellvertretend für viele Berufswege, die nach ähnlichem Muster verlaufen und vom Einzelnen immer mehr Anpassung fordern. Sie müssen also nicht genau diesen Berufsweg absolviert haben, um irgendwann den Wunsch zu haben, runter zu schalten. Sie können auch ein selbstständiger Maschinenbauingenieur sein, Erzieher, Redakteur, Steuerberater, Pfleger … alle empfinden den Druck, mehr und schneller zu arbeiten. Wer aber die Norm-Karriere durchläuft, hat irgendwann im Leben das Gefühl, ein vorgestanztes Leben zu leben, in dem etwas Wesentliches fehlt: Das Unverwechselbare, Eigene. Genau das wieder zu finden ist der Sinn des Runterschaltens.
Die Norm-Karriere
Lassen Sie uns so eine Norm-Karriere mal genauer unter die Lupe nehmen, um zu sehen, was sie uns bringt und was sie uns nimmt.
Phase eins: Die Herdentrieb-Entscheidung
Erinnern Sie sich mal einen Augenblick an die Zeit, als Sie sich für Ihren Berufsweg entschieden haben. Waren Sie ein Teenager, fünfzehn oder achtzehn, der genug hatte von der Schule, mit Pickeln im Gesicht und dem erstem Liebeskummer im Herzen? Oder strebten Sie schon damals Bestleistungen an? Oder haben Sie „mehrere Anläufe“ genommen und verschiedene Ausbildungen angefangen? Wie auch immer, wahrscheinlich wussten Sie weder von sich selbst noch von der Arbeitswelt besonders viel, als Sie diese Weichen für Ihr Leben gestellt haben. Eine Klientin, nennen wir sie Andrea Birkner, beschreibt ihre Haltung damals: „Ich hatte eigentlich gar keine Ahnung, wo es hingehen soll.“ Manche entscheiden sich für einen Berufsweg, weil die Eltern dazu raten, manche entscheiden sich aus demselben Grund dagegen. Wie ihre Berufswahl zustande kam, schildert Andrea Birkner so: „Meine Mutter meinte, ich solle Bürokauffrau werden, die würde man immer brauchen. Ich wollte lieber Gärtnerin werden, mein damaliger Freund war Gärtner, und mit Erde und Pflanzen arbeiten, das machte mir Spaß. Mein Vater sagte, weder das eine noch das andere, dafür hat das Kind kein Abitur gemacht. Unser Nachbar hatte eine kleine Werbeagentur, er bot mir an, mich mal einen Tag lang bei ihm in der Agentur umzusehen. Ich habe dann Germanistik studiert und wurde Texterin. Aber immer noch schiele ich nach Gewächshäusern und Gärtnereien. Was wäre wohl passiert, wenn unser Nachbar Metzger gewesen wäre?“
Die Frage verdeutlicht ein Hauptmerkmal dieser Lebensphase: die unbegrenzten Möglichkeiten, viel versprechenden Optionen, berechtigten Hoffnungen. So viele Türen stehen offen, und ziemlich ahnungslos und eher zufällig geht man durch die nächstbeste. Ob die Berufswahl „richtig“ ist, zeigt sich sowieso erst später. Die Frage ist ja auch, inwieweit so eine Entscheidung für ein ganzes Leben ausreicht – weiß ich mit achtzehn schon, was ich mit Mitte dreißig oder später brauche? Gibt es überhaupt die
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