Rush of Love - Verführt: Roman (German Edition)
gekommen und hatte meiner Mom die letzte Ehre erwiesen. Jetzt würde der Nachmittag bald in den Abend übergehen, und die Schatten wären meine einzige Gesellschaft.
Ich stieg aus dem Pick-up und schluckte den Kloß herunter, der sich in meinem Hals gebildet hatte. Wieder hier zu sein. Zu wissen, dass sie hier war und doch wieder nicht. Ich ging den Weg zu ihrem Grab entlang und fragte mich, ob während meiner Abwesenheit jemand vorbeigeschaut hatte. Sie hatte Freunde. Bestimmt war mal jemand mit frischen Blumen vorbeigekommen. Meine Augen brannten. Es war kein schöner Gedanke, dass sie wochenlang allein zurückgelassen worden war. Ich war froh, dass sie neben Valerie begraben lag. Das machte alles erträglicher.
Die erdige Grabstelle war inzwischen mit Gras überwachsen. Mr Murphy hatte mir gesagt, er würde es kostenlos mit Rasenstücken bepflanzen. Irgendwelche Extras hatte ich mir nicht leisten können. So albern das auch klang, aber der Anblick der kleinen Rasenfläche vermittelte mir das Gefühl, sie sei ordentlich bedeckt. Jetzt sah ihr Grab genau wie Valeries aus. Der Grabstein war allerdings nicht so reich verziert wie der meiner Schwester, sondern ganz schlicht. Für mehr hatte das Geld nicht gereicht. Ich hatte stundenlang gegrübelt, was denn nun genau draufstehen sollte:
Rebecca Hanson Wynn
19. April 1967 – 2. Juni 2012
Die Liebe, die sie hinterließ, lässt Träume wahr werden.
Sie war der Fels in einer Welt, die sich immer
weiter auflöste. Ihre Kraft und ihre Stärke
leben in unseren Herzen fort.
Die Familie, die mich geliebt hatte, gab es nicht mehr. Beim Anblick der beiden Gräber begriff ich, wie allein ich wirklich war. Ich hatte keine Familie mehr. Nach diesem Tag würde ich die Existenz meines Vaters leugnen.
»So bald hatte ich mit deiner Rückkehr nicht gerechnet.« Hinter mir knirschten Schritte im Kies, und ich brauchte mich nicht umzudrehen, um zu wissen, wer da kam. Und ich tat es auch nicht. Dafür war ich noch nicht bereit. Er würde mich durchschauen. Schließlich waren Cain und ich schon seit Kindergartenzeiten befreundet. Dass daraus irgendwann mehr geworden war, war für mich ganz natürlich. Ich hatte ihn viele Jahre geliebt.
»Mein Leben findet hier statt«, erwiderte ich schlicht.
»Genau das habe ich dir vor ein paar Wochen auch begreiflich zu machen versucht«, sagte Cain mit einem Anflug von Belustigung. Er war etwas rechthaberisch. Schon immer.
»Ich dachte, ich bräuchte die Unterstützung meines Vaters. Doch es geht auch ohne.«
Noch mal hörte man das Knirschen von Kies, dann stand Cain neben mir. »Ist er immer noch so ein Arschloch?«
Ich nickte nur. Genauer wollte ich vor Cain nicht darauf eingehen. Laut ausgesprochen, wurde alles so schrecklich real. Lieber glaubte ich, alles nur geträumt zu haben.
»Du magst seine neue Familie nicht?«, fragte Cain. Er würde keine Ruhe geben und mich mit Fragen löchern, bis ich nicht mehr anders konnte und ihm alles erzählte.
»Woher wusstest du, dass ich wieder da bin?«, fragte ich. Lange würde ihn das nicht vom Thema ablenken, aber ich hatte auch nicht vor, hier noch allzu lang herumzustehen.
»Du hast doch nicht im Ernst geglaubt, du könntest mit deinem Pick-up durch die Straßen fahren, ohne dass das innerhalb von fünf Minuten die Runde macht? Da solltest du die Stadt besser kennen, B.«
B. Seit wir fünf waren, nannte er mich B. Valerie hatte er Rie genannt. Spitznamen. Erinnerungen. Das gab Sicherheit. In dieser Stadt fühlte ich mich sicher.
»Bin ich denn überhaupt schon fünf Minuten hier?«, fragte ich und betrachtete das Grab vor mir. Den in Stein gemeißelten Namen meiner Mutter.
»Nee, wahrscheinlich nicht. Ich habe vor dem Lebensmittelgeschäft gesessen und darauf gewartet, dass Callie mit der Arbeit fertig ist.« Er verstummte. Er traf sich wieder mit Callie. Das wunderte mich nicht. Scheinbar war sie eine, die er nicht aus seinem System kriegte.
Ich atmete tief ein, wandte den Kopf zu ihm und sah in seine blauen Augen. Gefühle kämpften sich an der Benommenheit vorbei, die ich wie einen Umhang eng um mich geschlungen hatte. Zuhause. Sicherheit. Das alles kannte ich.
»Ich bleibe«, erklärte ich ihm.
Seine Lippen verzogen sich zu einem Grinsen, und er nickte. »Das freut mich. Du wurdest vermisst. Du gehörst hierher, B!«
Vor ein paar Wochen hatte ich gedacht, nun, da Mom tot war, würde ich nirgends mehr hingehören. Vielleicht hatte ich mich geirrt. Meine Vergangenheit war
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