Rushdie, Salman
tack,
tick. Sie sind wie Roboter, die im Takt der verschwindenden Sekunden marschieren.
Was war, Jo-Hua, lebt in der Vergangenheit; was ist, Jo-Hai, lebt im Hier und
Jetzt; und was sein wird, Jo-Aiga, lebt dort, wo wir nicht hingelangen können.
Ihre Zeit ist ein Gefängnis, sie sind die Gefängniswärter, und die Sekunden
und Minuten sind die Mauern.
Träume
sind die Feinde der Aalim, denn in Träumen zerfließen die Gesetze der Zeit.
Wir wissen - nicht wahr, Luka? - dass die Gesetze der Aalim nicht die Wahrheit
über die Zeit sagen. Die Zeit unserer Gefühle ist nicht dieselbe wie die Zeit
der Uhren. Wir wissen, wenn wir das, was wir tun, toll finden, vergeht die Zeit
wie im Flug, und wenn wir uns langweilen, wird sie langsamer. Außerdem wissen
wir, dass die Zeit in Momenten großer Begeisterung oder Erwartung in
wundervollen Augenblicken stillstehen kann.
Unsere
Träume sind die eigentlichen Wahrheiten - unsere Fantasien, die Kenntnisse
unseres Herzens. Wir wissen, dass die Zeit ein Fluss und keine Uhr ist, dass
sie falsch herum fließen und seitwärts ausbrechen kann, sodass sich von einem
auf den anderen Moment alles ändert. Wir wissen, dass der Zeitfluss Umwege nimmt,
dass ersieh winden und uns ins Gestern zurückversetzen oder vorwärts ins Übermorgen
tragen kann.
Wir
wissen, wenn wir uns verlieben, hört die Zeit auf zu existieren, und wir
wissen auch, dass sich die Zeit wiederholen und man für den Rest des Lebens in
ein und demselben Tag festhängen kann.
Wir
wissen, dass die Zeit nicht nur sie selbst ist, sondern auch ein Aspekt von
Raum und Bewegung. Stell dir zwei Jungen vor, meinetwegen dich und den jungen
Rattenschiet; beide tragen exakt aufeinander eingestellte Armbanduhren, die auf
die Sekunde genau die gleiche Zeit anzeigen. Und jetzt stell dir vor, dass
Rattenschiet, dieser faule Schlingel, an ein und demselben Ort sitzen bleibt,
gleich hier zum Beispiel, und zwar hundert Jahre lang während du den ganzen Weg
zur Schule läufst, nie stehen bleibst und dann wieder zurückläufst, und das
wieder und immer wieder, ebenfalls hundert Jahre lang. Am Ende dieses
Jahrhunderts zeigen eure Uhren immer noch die genaue Zeit an, nur würde deine
Uhr, verglichen mit Rattenschiets Uhr, sechs oder sieben Sekunden nachgehen.
Es gibt
Menschen, die lernen, ausschließlich im Moment zu leben. Für solche Menschen
verschwindet die Vergangenheit, und die Zukunft verliert an Bedeutung. Für sie
gibt es nur die Gegenwart, was heißt, dass für sie zwei der drei Aalim
überflüssig sind. Dann gibt es jene, die im Gestern verharren, in der
Erinnerung an eine verflossene Liebe, an die Kindheit oder an ein schreckliches
Verbrechen. Und manche Menschen schließlich leben nur für ein besseres Morgen;
für sie existiert die Vergangenheit nicht mehr.
Ich habe
den Menschen mein Leben lang diese Wahrheit über die Zeit erzählt und auch
gesagt, dass die Uhren der Aalim lügen. Deshalb sind die Aalim meine Todfeinde,
doch das macht nichts, denn rein zufällig bin auch ich ihr größter Gegner.»
*
Die
Wandlerin Gyara-Jinn fiel aus dem Galopp in einen langsamen Trab, dann blieb
sie vollends stehen und begann, sich zu verwandeln. Das gigantische, achtbeinige
Pferd wurde kleiner, das haarige Fell verschwand und machte einer glatten,
glitzernden Oberfläche Platz, der Pferdegeruch verflog, und stattdessen stieg
Luka der weit unleidlichere Geruch nach Schweinestall in die Nase. Schließlich
wurden aus acht Beinen vier, sodass Luka, Bär und Hund aus ihrem Geschirr
rutschten und wenige Meter tief auf einen zugegebenermaßen recht steinigen
Grund fielen. Gyara-Jinns einmalige Verwandlung in den König der Pferde ging zu
Ende, und sie wurde wieder zur Blechsau. Doch Luka beachtete diese dramatische
Verwandlung kaum, da er mit offenem Mund die überwältigende Szenerie
bestaunte, die zu sehen er so weit gereist war. Er stand am Rand der
Wissensberge, und am Fuße des riesigen Massivs lag, nur wenige Schritte von ihm
entfernt, der See der Weisheit. Sein Wasser schimmerte klar, rein und
durchsichtig im hellen, silbrigen Licht des Anbeginns aller Zeit, das nie zum
Licht der vollen Morgensonne wurde. Wie immer fielen kühle Schatten über das
Wasser, liebkosten und glätteten die Wellen. Es war ein geisterhafter Anblick,
gespenstisch und betörend schön zugleich; und es fiel leicht, sich Musik
dazuzudenken, eine leise klingelnde, kristallene Melodie: die legendäre Musik
der Sphären, die schon gespielt hatte, als die Welt
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