Rushdie, Salman
geboren wurde.
Der Schah
von Bläh hatte den See und seine Bewohner überraschend genau beschrieben, und
Luka hatte diese Beschreibung so oft gehört, dass er sie auswendig kannte.
Gleich unter der Wasseroberfläche waren blitzende Schwärme Pfiffigfische zu
sehen, ebenso die leuchtend bunten Neunmalklugen und die etwas blasseren
Tiefseeschlaumeier. Dicht über dem Wasser sausten die Jagdvögel dahin, große
Lehrreiher mit Pelikanschnabel und kahlköpfige, langschnäblige Gurus. In der
Tiefe wedelten die langen Tentakeln einer Seegrundpflanze namens Klugheit,
und Luka entdeckte sogar die kleinen Inselgruppen des Sees, die Eilande der
Theorien mit ihrem unglaublich wilden Bewuchs sowie die verschlungenen Wälder
und Elfenbeintürme der Philosophinseln und die unbewohnten Gestade der Fakten.
Schließlich erblickte Luka in der Ferne das, was er sich schon so lange zu
sehen gewünscht hatte: den Sturzbach der Worte, das Wunder aller Wunder, jenen
prächtigen Wasserfall, der aus den Wolken herabstürzte und die Welt der Magie
mit dem Mond des Meeres der Geschichtenströme verband.
Sie waren
ihren Verfolgern entwischt und hatten die allbekannte Südseite des Wissens
erreicht, ohne gefasst zu werden, doch nun ragte vor Luka ein Hindernis auf,
das weit unzugänglicher aussah, als er es sich vorgestellt hatte: ein steiler
Bergabhang, eine schroffe Mauer aus schwarzem Stein, auf dem nicht einmal
Pflanzen Wurzeln geschlagen hatten. «Wenn selbst Pflanzen es nicht schaffen,
hier Fuß zu fassen, wie sollte es dann mir gelingen?», fragte sich Luka
bestürzt. «Überhaupt, was ist das eigentlich für ein Berg?»
Er kannte
die Antwort. Es war der Berg der Magie, und der wusste sehr genau, wie er sich
schützen musste. «Wissen ist eine Lust, aber auch ein gefährliches Minenfeld,
es kann Befreiung sein und dennoch zur Falle werden», pflegte Raschid zu sagen.
«Der Weg zum Wissen wandelt und verändert sich, so wie die Welt sich wandelt
und verändert. An einem Tag ist er für alle offen und begehbar, am nächsten
verschlossen und bewacht. Manche Leute hüpfen den Berg hinauf, als wäre er eine
grasbewachsene Anhöhe in einem Park, für andere ist er wie eine unpassierbare
Wand.» Luka kratzte sich am Kopf, genau wie sein Vater es oft tat. «Ich
schätze, ich gehöre zu Letzteren», dachte er, «denn das sieht mir ganz und gar
nicht nach grasbewachsenem Hügel aus.» Offen gesagt, sah der Berg aus, als wäre
er ohne fachmännische Bergsteigerausrüstung nicht zu besteigen, von
entsprechendem Training ganz zu schweigen, und Luka konnte mit beidem nicht
aufwarten. Irgendwo hoch über ihm, auf dem Gipfel dieser Welt aus Stein,
brannte das Lebensfeuer in einem Tempel, und es ließ sich unmöglich sagen, wo
diese Höhle war und wie er sie finden sollte. Königin Soraya von Ott war nicht
mit ihm über die Regenbogenbrücke gekommen, und der längst nicht so
vertrauenswürdige (aber fantastisch gut informierte) Nobodaddy hatte offensichtlich
beschlossen - aus welchem Grund auch immer, nur nicht aus dem
einen, nein! -, ihm nicht länger zu helfen.
«Darf ich
dich daran erinnern», ertönte neben ihm Nuthogs Stimme, «dass du immer noch Hilfe
hast, und dass diese Hilfe - sofern ich denn wirklich eigens darauf hinweisen
muss - über Flügel verfügt?»
Nuthog,
Badlo und Sara waren noch in Drachengestalt, und Jinn drachisierte sich nun
ebenfalls rasch wieder. «Mit vier schnellen Drachen zu deinen Diensten
solltest du den Feuertempel im Handumdrehen erreichen können», sagte Nuthog.
«Vor allem, da diese vier schnellen Drachen auch noch wissen, wo oben auf dem
Berg der Tempel steht.»
«Wo er
ungefähr steht», warf Badlo etwas bescheidener ein.
«Wo wir
ihn wenigstens vermuten», sagte Sara, was gar nicht mehr überzeugend klang.
«Bevor wir
uns aber auf den Weg machen», fügte Jinn etwas hilfreicher hinzu, «wäre es
vermutlich gar nicht schlecht, wenn du das da drückst.»
Das da war ein in
die steinerne Südwand eingelassener silberner Knopf. «Sieht aus wie ein
Speicherpunkt», sagte Luka, «aber wieso ist er aus Silber und nicht aus Gold?»
«Der
goldene Button ist im Tempel», sagte Nuthog. «Immerhin kannst du speichern, wie
weit du bis jetzt gekommen bist. Aber sei vorsichtig. Von hier an kostet dich
jeder Fehler hundert Leben.»
Ziemlich
beunruhigend, dachte Luka, während er den silbernen Knopf drückte. Folglich
blieb ihm kaum noch Spielraum. Mit vierhundertfünfundsechzig Leben konnte er
sich maximal vier Pannen
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