Rushdie, Salman
Auf das
Schlimmste gefasst, drangen sie zu siebt ins innerste Heiligtum der Aalim ein. In
dem Land unter ihnen wimmelte es vor lauter Wundern, doch für Besichtigungen
hatten sie keine Zeit. Sein Leben lang, seit Raschid Khalifa ihm Geschichten
erzählte, war Luka auf den Sturzbach der Worte neugierig gewesen, der aus dem
Meer der Geschichten, welches hoch über der Welt auf dem unsichtbaren zweiten
Mond lag, zur Erde niederfiel. Wie würde er aussehen, dieser Wasserfall, der
aus dem Weltall herabstürzte? Das musste ein fantastischer Anblick sein. Sicher
würde er sich mit lautem Prasseln in den See der Weisheit ergießen. Und doch
hatte Raschid immer gesagt, der See der Weisheit sei ruhig und still, da
Weisheit noch den größten Wortschwall aufnehmen könne, ohne sich davon
aufwühlen zu lassen. Dort am See herrschte immerzu Morgendämmerung. Die langen,
fahlen Finger des ersten Lichts strichen sanft über das Wasser, und die
silbrige Sonne lugte über den Horizont, stieg aber nie auf. Da die Aalim die
Zeit beherrschten, hatten sie beschlossen, auf immer an ihrem Beginn zu leben.
Luka konnte die Augen schließen und all das vor sich sehen, er konnte lauschen
und die Stimme seines Vaters hören, wie er ihm den Anblick beschrieb, doch dass
er jetzt hier war und nicht wenigstens einen Blick darauf werfen konnte, machte
ihn sehr niedergeschlagen.
Und wo war
Nobodaddy? «Immer noch nirgendwo zu sehen», dachte Luka, der sich mit jeder
Minute, die verstrich, sicherer war, dass das verschwundene Phantom nichts
Gutes im Schilde führte, wo auch immer es steckte. «Unsere letzte
Auseinandersetzung steht sicher noch bevor», dachte er, «und das wird nicht
leicht, aber wenn er glaubt, ich würde ihm meinen Vater kampflos überlassen,
kann er sich auf eine Überraschung gefasst machen.» Dann aber kam ihm der
schlimmste Gedanke der Welt und traf ihn wie ein Fausthieb: War
Nobodaddy verschwunden, weil auch Raschid Khalifa bereits ... weil auch er ...
bevor Luka ihn retten konnte... nicht mehr da war? War das Phantom, das seinen
Vater aufsaugte, verschwunden, weil es erreicht hatte, was es wollte? Waren
all seine Anstrengungen vergebens? Bei den Gedanken begann Luka zu
zittern, die Augen wurden ihm wund und feucht, und Kummer überkam ihn in
großen, bebenden Wellen.
Doch dann
geschah etwas. Luka spürte, wie sich etwas in ihm veränderte. Es war, als ob
etwas Mächtigeres als seine eigene Natur die Herrschaft über ihn an sich riss,
ein Wille, der stärker war als sein eigener und der sich weigerte, das
Schlimmste anzunehmen. Nein, Raschids Leben war nicht vorbei. Das konnte
einfach nicht sein. Der Wille, der stärker als Lukas Wille war, wies diese
Möglichkeit zurück. Ebenso wie er es nicht zulassen würde, dass Luka aufgab,
dass er im Angesicht der Gefahr zurückwich oder im Angesicht des Grauens in
Deckung ging. Diese neue Kraft, die ihn erfasste, verlieh ihm die Stärke und
Zuversicht, die nötig waren, um das zu tun, was getan werden musste. Eigentlich
schien diese Kraft ihm von außen zuzufliegen, doch er wusste, dass sie aus seinem
Innern stammte und dass es seine eigene Kraft sein musste, seine
Entschlossenheit, seine Weigerung, aufzugeben, sein eigener starker Wille.
Auch darauf hatten ihn Raschid Khalifas Geschichten vorbereitet, die vielen
Erzählungen des Schah von Bläh über junge Helden, die angesichts schrecklicher
Not ungekannte Quellen in sich entdeckten. «Die Antworten auf die großen
Fragen, wer wir sind und wozu wir fähig sind», hatte Raschid oft gesagt,
«kennen wir erst, wenn diese Fragen gestellt werden. Dann und nur dann werden
wir erfahren, ob wir sie beantworten können oder nicht.»
Und über
Raschids Geschichten hinaus gab es ja auch noch das Beispiel von Lukas Bruder
Harun, der diese Antworten ebenfalls in sich gefunden hatte, vor langer, langer
Zeit, mitten auf dem Meer der Geschichten treibend. «Wenn doch nur mein Bruder
hier wäre, um mir zu helfen», dachte Luka, «aber das ist er nicht, jedenfalls
nicht richtig, auch wenn Hund der Bär mit seiner Stimme spricht und versucht,
auf mich aufzupassen. Also werde ich tun, was er an meiner Stelle getan hätte.
Ich gebe nicht auf.»
*
«Die Aalim
sind in ihren Gewohnheiten ziemlich festgefahren und mögen es gar nicht, wenn
man sie in ihrem Trott stört», hatte Raschid Khalifa eines
Abends dem schläfrigen Luka erzählt. «Ihre Ansicht über die Zeit ist
strikt und unabänderlich: erst gestern, dann heute, danach morgen, tick,
Weitere Kostenlose Bücher