Rushdie, Salman
leisten. Außerdem war Nuthogs Angebot, ihn ans Ziel zu
fliegen, zwar ebenso großzügig wie praktisch, doch erinnerte sich Luka deutlich
an das, was ihm sein Vater über die Wissensberge gesagt hatte: «Wenn du zum
Gipfel willst, um das Lebensfeuer zu finden, musst du den letzten Anstieg allein
schaffen. Die Höhen des Wissens erreicht nur, wer sich das Recht dazu verdient.
Das wird dich harte Arbeit kosten. Man kann sich nämlich nicht an die Spitze
schummeln.» Danach hatte er noch etwas gesagt, und Luka wusste noch, wie er
gedacht hatte, dass gerade dieses Letzte der eigentlich wichtige Teil sei,
aber er konnte sich nicht mehr daran erinnern. «Kein Wunder», dachte er,
«warum werden einem all diese Geschichten auch spätabends erzählt, wenn man
todmüde und kurz vor dem Einschlafen ist?»
«Vielen
Dank», sagte Luka zu Nuthog, «aber ich fürchte, ich muss dieses Rätsel allein
lösen und es aus eigener Kraft schaffen. Auf dem Rücken eines Drachen hinzufliegen
... na ja, das wäre nicht recht.»
Aus
irgendeinem Grund blieb dieses nicht recht in seinem
Kopf haften. Wieder und wieder wurden die Worte abgespielt, als hingen sie
fest, als drehte sich in seinem Hirn eine zerkratzte Schallplatte oder als
befände er sich in einer Art Zeitschlaufe. Nicht
recht. Nicht recht. Was war etwas, wenn es nicht recht
war? Na ja, falsch würden die meisten Leute sagen,
aber recht klingt fast wie ...
«Links»,
sagte er laut. «Das ist die Antwort. Ich stolperte nach rechts und fiel in die
Welt der Magie. Vielleicht muss ich jetzt irgendwie nach links gehen, um meinen Weg hindurch zu finden.»
Luka
dachte an die vielen spöttischen Warnungen seines großen Bruders Harun daheim
in der Stadt Kahani, die ihm im Augenblick wirklich sehr weit weg zu sein
schien. Pass bloß auf dass du nicht den Weg linker Hand gehst. Das hatte
Harun immer gesagt. «Aber ich mag's nicht, wenn man mich verspottet», rief Luka
sich ins Gedächtnis, «also sollte ich vielleicht das Gegenteil tun. Genau! Nur
dieses eine Mal werde ich nicht auf den Ratschlag meines Bruders hören, denn
recht denkende Menschen werden nie verstehen, was es heißt, Linkshänder zu
sein, und dieser verborgene Weg ist genau der Weg, der mich dahin führt, wohin
ich gehen muss.»
Immerhin
wäre seine Mutter Soraya auf seiner Seite. Vielleicht
hast du ja recht, wenn du glaubst, dass der linke der rechte Weg ist und dass
wir nicht recht haben, sondern falschliegen. Das hatte
sie oft gesagt, und ihm war das mehr als genug.
«Ich komme
mit», sagte Bär, der getreue Hund.
«Ich
auch», sagte Hund der Bär, wenn auch nicht ganz so bereitwillig.
Und dann
fiel Luka der wirklich wichtige Teil dessen wieder ein, was Raschid Khalifa
über den Berg erzählt hatte: «Um den Berg des Wissens erklimmen
zu können, musst du wissen, wer du bist.» Luka, der
schläfrige, bettmüde Luka, daheim, weit fort und vor langer, langer Zeit, hatte
das nicht richtig verstanden. «Weiß denn nicht jeder, wer er ist?», hatte er
gefragt. «Ich meine, ich bin einfach ich, richtig? Und du bist du.» Raschid
hatte ihm liebevoll übers Haar gestreichelt, was Luka stets verträumt und
schlaftrunken machte. «Die Menschen halten sich für allerhand, was sie nicht
sind», hatte er gesagt. «Sie halten sich für talentiert, obwohl sie es nicht
sind; sie fühlen sich mächtig, obwohl sie eigentlich nur Tyrannen sind; sie
glauben, gut zu sein, dabei sind sie schlecht. Die Menschen machen sich
ständig was vor und wissen gar nicht, was für Narren sie sind.»
«Naja, ich
bin jedenfalls ich, so einfach ist das», hatte Luka noch gesagt, kurz bevor er
einschlief.
*
«Da ist
er! Da ist der Feuerdieb! Da läuft er!»
«Es ist
Kopte. Mit einem brennenden Holzscheit zwischen den Zähnen!»
«Seht, wie
er rennt! Wie er ausweicht und Haken schlägt!»
«Haltet
ihn! - Ach, die erwischen ihn nie! - Haltet den Kopten! - Mann, der ist
schnell wie ein Kugelblitz! - Haltet den Dieb! Haltet den Feuerdieb!»
Luka
schreckte aus seinen Träumereien auf und sah Kojote, wie er aus den Schatten am
Fuße der Wissensberge hervorbrach. Feuer loderte ihm aus dem Maul, während er
um die Berge zur gegenüberliegenden Seite rannte und dabei schneller lief, als
Luka es selbst bei einem Kojoten für möglich gehalten hätte. Er jagte über den
steinigen Grund, fort von der Regenbogenbrücke, um seine Verfolger bewusst von
Lukas vermutlicher Fluchtroute abzulenken und in die Wilde Ödnis jenseits des
Sees zu führen. Diese
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