Russendisko
auf. Stolz zog er einen dicken Stapel Papier heraus. »Hier«, sagte er, »mein Roman. Lesen Sie ihn bitte schnell, aber vorsichtig. Ich lasse Ihnen die Tasche da, damit Sie keine Blätter verlieren. Mich würde Ihre Meinung sehr interessieren.« Dann ging er. Der Schneider warf das Manuskript in den Mülleimer, die Geschichten kannte er ja bereits alle. Dann nahm er die alte Ledertasche des Professors auseinander und nähte sich daraus eine Badehose. Damit erfüllte er sich einen alten Traum. Als er nämlich noch Archäologie in der Sowjetunion studiert hatte, hatte er einmal einen Brief aus Amerika bekommen. Seine Tante, die seit zwanzig Jahren dort lebte, wollte Russland besuchen und fragte ihn, was er für Geschenke haben wolle. Er konnte sich an die Tante gar nicht mehr so richtig erinnern und führte gerade ein sehr ärmliches Studentenleben. Ihm fehlte es an allem. Er hatte weder eine richtige Wohnung noch genug zu essen. Voller Bitterkeit schrieb er zurück: Danke, er habe alles, nur eine Lederbadehose nicht, die er jedoch gut gebrauchen könne. Die Tante verstand seinen Witz nicht. Als sie in Moskau ankam, hatte sie eine ganze Kiste voller Geschenke dabei, aber nicht die Badehose. »Es tut mir Leid, Junge«,sagte sie, »ganz Amerika habe ich auf den Kopf gestellt, aber nirgends eine Lederbadehose gefunden. Sie sind wahrscheinlich bei uns aus der Mode.« Wo immer ihn später sein Schicksal hinverschlug, erinnerte sich der Schneider stets an diese Geschichte. Nun hatte er sie - die tolle Badehose aus der Aktentasche des
Professors.
Der Professor erkundigte sich vorsichtig einmal in der Woche, ob der Schneider seinen Roman schon gelesen hätte. »Ich hatte so viel zu tun«, schüttelte der Schneider jedes Mal bedeutungsvoll den Kopf. Der Professor ließ jedoch nicht locker. Eines Tages kam er am frühen Sonntag Vormittag. Es war schon Sommer, der Schneider saß mit einer Flasche Bier in der Hand auf dem Balkon und sonnte sich. Er hatte nur eine Badehose an - die aus Leder. Der Professor setzte sich neben ihn und nahm auch eine Flasche Berliner Pilsner. »Ach übrigens«, begann er das Gespräch, »haben Sie schon in mein Manuskript reingelesen?« »O ja«, sagte der Schneider, »ich fand es sehr beeindruckend, wie Sie das alles beschrieben haben ...« Der Blick des Professors blieb an der Badehose hängen. »Ein neues Kunstwerk? Komisch, ich hatte früher eine Tasche, die genau in diesem Farbton war.« »Ach, Unsinn«, sagte der Schneider, »ich kenne Ihre Tasche, die sieht anders aus«. »Sie sieht anders aus?« »Ja, ganz anders!« Die Sonne strahlte.
Mein kleiner Freund
Die Liebe zu Fremdsprachen kann einem teuer zu stehen kommen. Mein Freund Klaus sitzt seit einem Monat in einem russischen Gefängnis, dabei wollte er eigentlich nur Russisch lernen. In Berlin hatte er immer die »Deutsche Welle« gehört, und zwar die Sendung »Russischunterricht für Kinder von fünf bis zehn«. Zweimal die Woche, ein ganzes Jahr lang. Das Ergebnis war, dass er jeden Satz mit »Und jetzt, mein kleiner Freund ...« begann. Nicht einmal im Kindergarten wäre er damit durchgekommen. Klaus brauchte dringend einen russischen Gesprächspartner. Ich hatte keine Zeit und empfahl ihm, eine Annonce in Tip und Zitty aufzugeben - »Vermiete kurzfristig Bett an russische Emigranten« oder etwas Ähnliches. Schon bald meldete sich der erste Russe bei ihm, Sergej. Er war vor einem Jahr im Rahmen eines Künstleraustauschprogramms nach Deutschland gekommen. Sechs Monate lang hatte er zeitgenössische russische Kunst im Künstlerhaus Bethanien präsentiert.
Dann war das Programm zu Ende. Sergej wollte jedoch Berlin nicht wieder verlassen und entschied sich, illegal hier zu bleiben. Tagsüber schuftete er auf einer Baustelle, abends frönte er seiner Leidenschaft, in der Lebensmittelabteilung des KaDeWe Weinbergschnecken zu verputzen. Dafür ging fast sein ganzes Geld drauf. Zuerst wohnte Sergej in einem der besetzten Häuser in Friedrichshain. Als die Polizei das Haus räumte, konnte er im letzten Moment entkommen. Klaus stellte dann für ihn ein Bett in die Ecke seiner Einzimmerwohnung. »Und jetzt, mein kleiner Freund«, maulte er jeden Tag, »musst du mir helfen, meine Russischkenntnisse zu verbessern.« Doch so richtig klappte das nicht. Zu unterschiedlich waren beide, zu klein die Wohnung. Klaus, ein überzeugter Vegetarier, musste
jeden Tag die abscheulichen Essgewohnheiten von Sergej erdulden. Einmal versuchte er, heimlich ein
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