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Russendisko

Titel: Russendisko Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kaminer,Wladimir
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ich Markus. »Genau wie bei uns, genau wie bei uns«, erwiderte er. Und wollte sich dann unbedingt das Birkenkollektiv ansehen. Wir gingen zusammen hin. Auf der großen Bühne führten zwanzig junge Frauen, angetan mit traditionellem Kopfputz, einen volkstümlichen Reigen vor. Markus war hingerissen. Ich merkte, dass er am liebsten sofort das ganze Ensemble zu sich nach Hause eingeladen hätte. Da wir fast die einzigen Zuschauer waren, hatten uns auch die Frauen auf der Bühne bemerkt.
    Nach der Vorstellung wollte Markus seine Begeisterung dem Birkenkollektiv persönlich schildern, und ich sollte dabei den Übersetzer spielen. In weniger als einer Stunde saßen wir schon zu fünft in einem Taxi und fuhren zu Markus nach Hause. Die drei Birkenmädchen, die uns begleiteten, hießen Katja, Olga und Sweta und hatten Berlin bis jetzt nur aus dem Hotelfenster gesehen. Unterwegs kauften wir noch die Nationalgetränke beider Länder - drei Flaschen Wodka und eine Kiste Bier. Diese Mischung erwies sich später als großer Fehler. Nachdem die zweite Wodkaflasche leer unter dem Tisch lag, entschied sich Markus, die Frauen über die altgermanische Geschichte aufzuklären. Er holte seine Lieblingslanze aus dem Schrank und fuchtelte uns damit vor der Nase herum. Daraufhin fühlte sich eines der Mädchen, Katja oder Sweta, attackiert. Sie entwaffnete Markus blitzschnell und warf die Lanze aus dem Fenster. Markus ging außer sich vor Wut auf sie los, beide liefen aus der Wohnung und wir hinterher. Die Polizei erschien, von den Nachbarn gerufen, und versuchte zu schlichten. Auf dem Revier zeigte
    Markus das Mädchen wegen Hausfriedensbruch an. Sie zeigte ihn ihrerseits gleich wegen sieben Vergehen an, unter anderem wegen versuchter Vergewaltigung und Mordversuchs. Markus schrie, die Birkenfrau sei an allem Schuld. Die Polizeibeamten klärten den Fall unbürokratisch und empfahlen uns einfach, so schnell wie möglich in verschiedene Richtungen auseinander zu gehen. Markus schlossen sie mit Handschellen an die Tür des Reviers, bis er sich wieder beruhigt hatte. Dort wurde er dann von einem Mann angesprochen, der sich als Reporter der Berliner Zeitung vorstellte, zufällig vorbeigekommen sei und nun wissen wollte, was passiert war. »Unfug«, antwortete Markus kurz und knapp. Der Reporter überlegte nicht lange, holte die Kamera aus der Tasche und machte ein paar Fotos von ihm. Am nächsten Tag konnte man in der Berliner Zeitung den gefesselten Markus sehen. Unter dem Foto stand nur ein Satz: »Die Berliner Polizei geht hart gegen jugoslawische Kriminelle vor.«
    Doppelleben in Berlin
    Dort, wo ich herkomme, ist das Leben zum Leben ungeeignet. Wegen des starken Windes und der schlechten Verkehrsverbindungen wird jedes Vorhaben ungeheuer mühsam. Schon mit vierzehn ist man oft unglaublich müde, so richtig erholen kann man sich erst mit fünfundvierzig. Ganz oft geht man einkaufen und kommt nicht wieder, oder man schreibt einen Roman, merkt plötzlich auf Seite 2000, wie unübersichtlich das Ganze geworden ist, und fängt noch einmal von vorne an. Es ist ein zeitloses Leben, zu dessen größten Errungenschaften die Möglichkeit zählt, im eigenen Bett zu sterben.
    Ganz anders ist es hier, wo man unter Umständen mehrere Leben gleichzeitig führen kann, sein eigenes und das eines anderen. Für Menschen, denen ein solches Doppelleben gefällt, ist Berlin die ideale Stadt. Nichts ist hier so, wie es scheint. Die Anlageberaterin aus meiner Sparkassenfiliale, eine nette, rundliche Frau mit dem Namensschild »Wolf« auf ihrer Bluse, erlebte ich neulich als Tänzerin eines Audioballetts in einem der zahllosen Tanztheater Berlins. Jeden zweiten Abend zieht sie ein Tutu aus Plexiglas an, in dem Aufnahme- und Wiedergabegeräte eingebaut sind. Dann wackelt Frau Wolf leicht mit dem Hintern, dabei werden ihre Bewegungen aufgenommen, in eine Art Musik umgewandelt, die aus dem Tutu kommt und sodann den Rhythmus für den Tanz der Truppe vorgibt. Wie verrückt springt Frau Wolf zusammen mit anderen Anlageberaterinnen auf der Bühne herum und vergisst sich völlig. Die Frauen waren letztes Jahr auf einem Audioballett-Festival in Japan und gewannen einen Preis. Herrn Heisenberg lernte ich auf dem Arbeitsamt kennen, als ich einmal langzeitarbeitslos war. Seine Aufgabe bestand darin,
    Menschen mit schwer vermittelbaren Berufen wie Schauspieler, Regisseure oder Theologen dazu zu bringen, mittels einer Umschulung den Beruf zu wechseln. Herr Heisenberg sprach

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