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Russendisko

Titel: Russendisko Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kaminer,Wladimir
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gerne und oft über Vernunft. »Ich bin ein großer Fan der Kunst«, sagte er zu mir, »und bin froh, dass man sie heutzutage an jeder Ecke sehen kann. Aber ich rate Ihnen dringend, einen vernünftigen Beruf zu ergreifen, den eines Kaufmanns oder eines Tischlers beispielsweise.« Seine Krawatte passte farblich perfekt zu den Tapeten in seinem Büro. Heisenberg klang sehr überzeugend und verdarb mir für den Rest des Tages gründlich die Laune. Zufälligerweise hatte ich an dem Abend meiner Mutter versprochen, ihr das nächtliche Berlin zu zeigen. Darauf wartete sie schon lange. Kurz nach Mitternacht landeten wir in einem Schwulenclub in Berlin Mitte, wo ich meiner Mutter von dem frustrierenden Arbeitsamt-Gespräch erzählte. Plötzlich entdeckte ich Heisenberg in einer Ecke. Er trug Jeans, eine gelbe Lederjacke und um den Hals eine dicke Goldkette. Ein junger Thailänder saß lachend auf seinem Schoß. Heisenbergs Augen glänzten. »Da ist er übrigens, mein Arbeitsberater«, sagte ich zu meiner Mutter, die sich vorsichtig umsah, dann den Kopf schüttelte und von einer »Schweinerei« sprach.
    Mein Bekannter, der russische Geschäftsmann Hensel, der als Großhändler deutsche Autos nach Schweden verkauft, wurde letzten Sommer von einem Nashorn überrumpelt und fast zerstampft. Sein Freund, ein leitender Siemensingenieur, hatte das Nashorn gereizt, während der nichts ahnende Hensel sich hundert Meter weiter ein Frühstück bereitete. Das Nashorn ging zunächst auch auf den Siemensingenieur los. Dieser, durch seinen Beruf zu schnellem Handeln in komplizierten Situationen befähigt, kletterte sofort auf einen Baum. Daraufhin nahm sich das Nashorn den Autohändler vor, und die Marmelade flog durch die Gegend.
    Hensel musste mehrere Wochen im Krankenhaus verbringen,
    und seine Pilgerreise in den Himalaja fiel flach. Die will er nun auf seiner nächsten Safari im Frühjahr nachholen. Beide Freunde meinen, dass man nur noch in Afrika solche Abenteuer erleben kann. Sie irren. Es gibt vielleicht keine durchgedrehten Nashörner in Berlin, aber auch hier im Großstadtdschungel lauern überall Gefahren. Die Dienstleistungsgesellschaft macht die wildesten Träume wahr, sogar telefonisch. So hält sich hartnäckig das Gerücht, die tonnenschweren Lafayette-Glasfenster wären nicht aufgrund schlampiger Bauarbeit auf die Friedrichstraße geknallt, sondern auf Bestellung. Durch Einsatz der raffinierten Ideen eines Fußgängers, der gleichzeitig Auftraggeber war, kam niemand zu Schaden. Das Fenster war zwar im Eimer, dafür aber der Abend gerettet.
    Bahnhof Lichtenberg
    Mein alter Bekannter Andrej, Inhaber der wahrscheinlich einzigen russischen Kette von Lebensmittelläden in Berlin, Kasatschok, will sein gut gehendes Geschäft aufgeben und zusammen mit seiner Familie nach Amerika auswandern. Die Gründe für diese Entscheidung hält er geheim. Vielleicht kam er mit dem deutschen Steuerrecht nicht mehr klar, oder er konnte seine imperialistischen Ambitionen in Europa nicht weiter verwirklichen. Denn in der letzten Zeit hatte sich Andrej zu einem skrupellosen Geschäftsmann entwickelt. Dabei hatten wir vor neun Jahren gemeinsam und ganz harmlos den Grundstein für seine Karriere gelegt, als wir von Moskau nach Berlin zogen.
    Unsere erste Geschäftsstelle befand sich vor der Tür der Eingangshalle des Bahnhofs Lichtenberg. Andrej, Mischa und ich bewohnten damals eine Einzimmerwohnung im Ausländerheim von Marzahn. Mischa und ich hatten damals noch keine festen Lebensziele und spielten gern abends in der Küche Gitarre. Andrej spielte zwar auch ganz gut Gitarre, hatte aber schon ein Ziel vor Augen: Er wollte unbedingt Millionär werden. Immerhin war er ein ganzes Stück älter als wir, nämlich bereits 31.
    Seine erste Idee zum Reichwerden wurde von uns mit Begeisterung aufgenommen. Damals bekamen wir von der deutschen Regierung nur DM 180,- Taschengeld im Monat, und Andrej versprach uns das Dreifache. Wir legten unser Geld zusammen und fuhren um 7.00 Uhr morgens in den Wedding. Dort kauften wir bei Aldi drei Rucksäcke voll Hansabier und Coladosen und schleppten das Zeug zum Bahnhof Lichtenberg. Damals hatte der Kapitalismus diese Gegend noch nicht ganz erreicht, wir waren praktisch seine Vorboten. Die Büchsen
    verkauften wir für je DM 1,20. Neben uns standen noch andere Vorboten: eine ostdeutsche Familie, die mit Ei und Schinken belegte Brötchen verkaufte. Sie war sehr stolz auf ihre Handarbeit und konnte uns nicht leiden, weil

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