Russendisko
Kilo Kürbiskerne. Zuerst durfte Sascha nicht mehr als zwei Tage in der Woche am Stand arbeiten, doch jetzt bekommen die Frauen ein zweites Kind, und während ihres Mutterschaftsurlaubs kann er den Geschäftsführer spielen.
Eine ungewöhnliche Karriere für einen Slawisten in Berlin.
Der Professor
Als der Professor nach Deutschland kam, hatte er wesentlich mehr Geld als ein durchschnittlicher Einwanderer. Ein Leben auf Kosten des Sozialamtes kam bei ihm nicht in Frage. Im Gegenteil, der Professor kaufte sich sofort einen Ford Skorpio und konnte schnell mit Hilfe eines Maklers eine große, helle Wohnung in der Knaackstraße erwerben. In Moskau hatte der Professor am pädagogischen Krupskaja-Institut »Die Erziehung der Jugend in der sozialistischen Gesellschaft« unterrichtet. Außerdem hatte er die Rolle verschiedener Haustiere in der dörflichen Folklore untersucht. Seine wissenschaftliche Arbeit, die ihm den Professorentitel eingebracht hatte und danach auch noch als Buch erschienen war, hieß: »Die Bedeutung der Ziege im Bewusstsein des russischen Volkes«. Obwohl Mitglied der KPdSU, hatte der Professor keine klaren politischen Ansichten. Das heißt, er hatte sie schon, aber nicht wirklich. Manchmal dachte er darüber nach, wie man alles im Lande besser organisieren könnte, aber er schrieb seine Gedanken nie auf und verriet sie auch niemandem. Der Professor war wie viele seiner Zeitgenossen ein Liberaler. Als es mit dem Sozialismus zu Ende ging und neue Zeiten anbrachen, hatte der Professor die Gefahren, die in einem solchen Umbruch lagen, nicht gleich erkannt. Er würde genauso gut »Die Erziehung der Jugend in der kapitalistischen Gesellschaft« unterrichten können, dachte der Mann naiv. Es kam aber anders. Kein Mensch brauchte mehr eine solche Ausbildung, die Jugend nahm ihre Erziehung selbst in die Hand, und das Institut wurde geschlossen. Die Räume wurden an die Betreiber einer Technodisco vermietet. Der Professor bekam sein Gehalt immer unregelmäßiger und schließlich gar nicht mehr. Die Regierung konnte nicht alle
Angestellten, die arbeitslos geworden waren, auf einmal bezahlen. »Zuerst die Bergarbeiter«, sagte der Regierungssprecher im Fernsehen, »dann die Ärzte«. Der arbeitslose Professor sah anfangs sehr viel Fernsehen. Er wollte auf diese Weise die dunklen Botschaften der neuen Zeit entziffern. Besonders interessierte ihn das neue Programm »Was tun?«, eine Sendung für die russische Intelligenz mit wenig Werbung. Ihre Botschaft ließ sich allerdings schwer begreifen. »Gehen Sie in den Wald«, riet der Moderator, »sammeln Sie Pilze und Beeren.« »Geh doch selber in den Wald!«, erwiderte der Professor leichten Herzens und schaltete die Kiste aus. Seine liberalen Freunde behaupteten, die Rettung läge allein in der Emigration. Der Professor packte seine Sachen, verkaufte die Wohnung und fuhr nach Deutschland. Hier bekam er als Halbjude Asyl und durfte bleiben. Nur eins quälte ihn: dass er nichts zu tun hatte.
In der russischen Zeitung entdeckte er die Annonce, dass in Berlin ein russischer Kindergarten eröffnete und dafür Betreuer gesucht wurden. Sofort meldete sich der Professor und wurde auch von den Inhaberinnen, zwei jungen Frauen, auf 620-DM- Basis angestellt. Er bekam DM 9,- die Stunde. Abends ging er zu seinem Nachbarn, einem Schneider, der auch aus Russland kam und eigentlich Archäologe war. Erst in Deutschland, wo es nicht so viel auszugraben gab, machte er eine Umschulung. Nun kaufte der Archäologe auf dem Flohmarkt billige Klamotten, trennte sie auf und nähte aus ihnen neue, pfiffige Kleider, die er in einer russischen Boutique am Kurfürstendamm verscheuerte. Jeden Abend saß er an der Nähmaschine, und der Professor schilderte ihm sein versautes Leben.
Zuerst hörte der Archäologe interessiert zu, doch irgendwann merkte er, dass der Professor sich oft wiederholte und ihn mit seinen Geschichten derart irritierte, dass er nicht mehr gut nähen konnte. »Wissen Sie was, mein Freund«, sagte er eines
Tages zum Professor, »das sind alles so tolle Geschichten, die müssen Sie unbedingt aufschreiben, es könnte ein toller Roman daraus werden. Ich kenne jemanden, der hier Bücher auf Russisch verlegt, und würde Sie ihm empfehlen.« Dem Professor gefiel diese Idee. Er fand dadurch den Sinn seines Lebens wieder. Monatelang schloss er sich in seinem Arbeitszimmer ein. Eines Tages im Frühling tauchte er mit einer dicken Ledertasche in der Hand wieder bei dem Schneider
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