Russendisko
Richtung Karl-vonBasedow abgegangen war, brach unter den Fahrgästen eine Diskussion aus. Ein glatzköpfiger Theologe verteidigte den Papst. Eine ältere Dame übernahm den Part der verzweifelten Intellektuellen: »Ich bin evangelisch«, sagte sie, »doch nach allem, was mit uns Deutschen passiert ist, muss das ganze Religionskonzept gründlich überdacht werden.« Die Glatze
bestand darauf, dass man das Handeln des Vatikans mit menschlicher Logik nicht erklären könne. Die Jugend nahm die radikalste Position ein: »Wir schmeißen alles über Bord!« Ihnen machte die talk-showähnliche Debatte im Speisewagen den größten Spaß. »Ich bin evangelisch-atheistisch«, gestand ein Mädchen, »ich bin sogar von meinen Eltern richtig in der Kirche transformiert worden.« »Ich bin evangelischkatholisch«, behauptete ein anderes Mädchen, »deswegen sage ich: kein Sex vor der Ehe.« »Stell dich doch nicht so an«, moserte ihr 15-jähriger Freund, »du bist schließlich nicht Mutter Teresa oder so was.« In einem fahrenden Zug käme so eine Diskussion nie zustande. Nur in einem stehenden. »Immer dann, wenn dem Menschen etwas fehlt, erinnert er sich an Gott«, erklärte der Theologe stolz. Zwei Stunden später war der Strom wieder da, und wir fuhren weiter. Weimar blieb hinter uns und Gott irgendwo bei Merseburg stecken.
N ü sse aus aller Welt und deutsche Pilze aus
Sachsen
Berlin ist nicht gerade eine Stadt der Armen, doch auch hier gibt es immer mehr benachteiligte Bevölkerungsschichten wie etwa die Studenten der geisteswissenschaftlichen Fächer, allein erziehende Mütter oder drogenabhängige Straßenmusikanten. Erst mit einem abgeschlossenen Studium hat man Anspruch auf Sozialhilfe. So reden beispielsweise Diplomtheologen öfter mit der Fürsorge als mit Gott. Aber auch schon der Student, der DM 800,- BAföG im Monat bekommt, wovon die Hälfte für seine Miete draufgeht, würde unterhalb des Sozialhilfeniveaus vegetieren, wenn es nicht die Studentenjobs gäbe. Doch was kriegt nun ein angehender Geisteswissenschaftler von der studentischen Arbeitsvermittlung TUSMA - »Telefoniere und Studenten machen alles« - angeboten? Mein Freund Sascha aus der Ukraine, der seit zwei Jahren an der Humboldt-Universität Slawistik studiert, hatte die Wahl: Er konnte in einem australischen Krokodil-Steakhaus Teller waschen, im Erotischen Museum von Beate Uhse die Klos putzen oder als Fettabsauger in einer Schönheitsklinik aushelfen. Sascha entschied sich, obwohl Vegetarier, für das Krokodil-Restaurant und ekelte sich dort von früh bis spät. Zum Glück lernte er bald die russische Rockband »Unter Wasser« kennen, die ein Kleintransportunternehmen betrieb. Dort stieg er als Möbelpacker ein.
Die Beschäftigung in der Umzugsbranche stärkt die Muskeln eines Mannes und erweitert seinen geistigen Horizont. Man begegnet jeden Tag neuen Menschen, geht in fremden Wohnungen ein und aus und knüpft Kontakte. Einmal half Sascha zwei Frauen bei ihrem Umzug. Sie besaßen am Winterfeldplatz einen Verkaufsstand mit dem schönen Namen
»Nüsse aus aller Welt und deutsche Pilze aus Sachsen«. Beide Frauen, die zusammen ein Kind großzogen, fanden Sascha sehr sympathisch und stellten ihn sofort als Verkäufer ein. Nahtlos wechselte er von der Umzugsbranche in die Nussbranche. Anfänglich war ihm das Geschäft etwas unheimlich. Die eine Frau, Melina, war Griechin und für die Nüsse aus aller Welt zuständig, während die andere Frau, Sabine aus Sachsen, die Pilze auftrieb. Sie wurden aus ihrer Heimat mit dem Auto herangeschafft. Woher die Nüsse aus aller Welt kamen, war Betriebsgeheimnis. Sie befanden sich in großen Säcken und mussten im Lager aussortiert werden. Dafür hatten die beiden Frauen mehrere Mitglieder der sibirischen Rockband »Papa Karlo« angestellt. Um die Nüsse erfolgreich verkaufen zu können, musste Sascha die gesamte Nussgeographie auswendig lernen. Die wissbegierigen Kunden am Winterfeldplatz wollen alles ganz genau wissen. »Woher kommen diese Walnüsse?«, fragte einer. »Aus Frankreich«, antwortete Sascha. »Und die Macadamian?« »Aus Kalifornien.« »Und die Paranüsse?« »Ein Sonderangebot aus Pakistan.« »Und woher kommen Sie?« »Ich komme aus der Südukraine«, sagte der ehrliche Sascha.»Aha!«, staunte der Kunde und versuchte einen Zusammenhang zwischen der Ware und dem Verkäufer herzustellen. Doch daran scheiterte seine Fantasie. Ein anderer fand all das echt Multikulti und erwarb gleich ein ganzes
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