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Russendisko

Titel: Russendisko Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kaminer,Wladimir
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scheint, dass alle in Berlin existierenden Castingfirmen Schauspieler für Stalingrad gesucht haben. Ich wurde auch von einer angerufen: »Schicken Sie uns bitte ein Foto von Ihnen, 30x40 cm, schwarzweiß«, verlangte eine Frauenstimme von mir. »Aber ich bin doch gar kein Schauspieler«, wandte ich ein. »Was sind Sie dann?«, die Stimme klang überrascht, die Castingfrau dachte anscheinend, dass alle Russen hier Schauspieler sind. »Ich bin Hausmeister«, sagte ich aus Protest. »Schön, na gut, schicken Sie uns trotzdem ein Foto von Ihnen, 24x30 in Schwarzweiß, und, übrigens, kennen Sie eine richtig alte russische Frau, so um die neunzig?« Ich kannte eine, doch die kannte die Frau auch schon.
    Dieser Film schlägt schon vor Drehbeginn große Wellen - und das nicht nur hier. Aus Moskau erreichte mich neulich die
    Nachricht, dass der russische Filmmogul Nikita Michalkow als Antwort auf Annauds Projekt mit dem Gedanken spielt, den größten und teuersten russischen Kriegsfilm aller Zeiten zu drehen: »Die Eroberung von Berlin«. Im Moment würden dafür Beziehungen zu Regierung und Armee geknüpft, um an Gelder und Genehmigungen heranzukommen. Das zerstörte Berlin soll in der tschetschenischen Hauptstadt Grosnij nachgebaut werden, und alle Kriegsveteranen dürfen kostenlos mitspielen. Natürlich kann der russische Spielfilm nicht so teuer werden, dafür haben die Russen aber die echten Kanonen und die echte Zivilbevölkerung, die sie niedermetzeln können - und damit den wahren Realismus auf ihrer Seite. In Russland hat Michalkow eine Kulisse, von der Annaud nur träumen kann.
    Sicher werden beide Filme ein Riesenerfolg und die Kassen werden klingeln. Denn es gibt viele Menschen, die auf so was stehen. Das zeigt Amerika, und das hat mir auch gestern eine Bekannte bestätigt, die früher selbst Schauspielerin war und jetzt die russische Telefonsexnummer in Berlin bedient. Immer mal wieder rufen dort auch Deutsche an. Vor kurzem meldete sich ein alter Mann. »Russischer Telefonsex?«, fragte er. »Gut. Aber kein >Ich zieh mich langsam aus< und >Was hast du für ein großes Ding!< Nicht so einen Scheiß! Das mag ich nicht. Hör zu: Wir schreiben das Jahr 1943, ein Minenfeld in der Nähe von Stalingrad. Es ist saukalt, die Luft riecht nach Pulver. In der Ferne hört man die Geschütze donnern. Du heißt Klawa, du bist blond, dick und liegst im Schnee. Du hast nur Soldatenstiefel und eine Mütze an. Ich, in der Uniform eines Sturmbannführers der SS, gehe auf dich zu. Es geht looooos!«
    Wie ich einmal Schauspieler war
    Wir müssen dem deutschen Film auf die Sprünge helfen, dachten wir. Zusammen sind wir stark: der Regisseur Annaud, die Mumien-Frau, »Shakespeare in Love«, der Privatdetektiv aus »Roger Rabbit«, ein bulgarischer Zauberer, zweihundert Statisten und ich, die wir alle bei den »Stalingrad«- Dreharbeiten beschäftigt sind.
    Um fünf Uhr früh versammeln wir uns alle am Fehrbelliner Platz, von dort werden wir mit Bussen nach Krampnitz zum Chruschtschow-Stab gefahren. Den Chruschtschow kenne ich, es ist der Komiker aus dem »Roger-Rabbit«-Film. Er sitzt allein im Aufenthaltsraum auf dem Hocker und langweilt sich. Ich gehe zu ihm: »How are you? Wie geht's Roger Rabbit?« Sofort jagt mich die Regieassistentin aus dem Raum. Statisten dürfen die Stars nämlich nicht ansprechen. So ein Unsinn! Heute ist nicht viel los, etwa vierzig Statisten, überwiegend Russen, laufen auf dem Gelände herum. Die Fickszene muss gedreht werden, erzählen sie mir. Schon die dritte innerhalb einer Woche.
    Das haben bereits alle verstanden: In diesem Kriegsfilm geht es nicht so sehr um die Schlacht, die ganzen Panzer und Flugzeuge dienen nur als Dekoration einer komplizierten Liebesbeziehung: Die Mumien-Frau Tanja liebt den Scharfschützen Visilij, schläft aber mit dem Shakespeare in Love, und zwar immer dann, wenn es draußen heftig knallt. Roger Rabbit leidet derweil unter Einsamkeit. Er liebt Tanja auch und schimpft ständig über Stalin, als ob dieser daran Schuld wäre, dass Roger immer allein ist. Beinahe hätte ich das Frühstück verpasst. Es steht schon ab sechs auf den Tischen bereit. Heute gibt es Spiegeleier mit Schinken, belegte Brötchen, Kaffee und Tee. Alle Statisten
    freuen sich und bereiten sich auf langes Warten und Herumsitzen vor. Für viele Russen ist »Stalingrad« zu einer Beschäftigung für die ganze Familie geworden. Die Männer nehmen an den Schlachtszenen teil, die Frauen spielen Sekretärinnen

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