Russendisko
wir in ihren Augen bloß Abzocker waren, die eine schnelle Mark machen wollten. Die Familie wusste, dass eine Dose Hansabier bei Aldi 43 Pfennig kostete, und wir das Dreifache verlangten, Andrej sogar das Vierfache, während sie mit Schweiß und Fleiß ihre Brötchen zurechtgemacht hatten. Merkwürdigerweise wurden ausgerechnet diese ehrlichen Handarbeiter von einer plötzlich auftauchenden Kontrolle des Gesundheitsamtes verjagt. Die Belegtebrötchenfamilie hatte zu schmutzige Hände, außerdem war ihr Gesundheitspass abgelaufen, und die Ware war unsachgemäß verpackt. Wir taten inzwischen so, als wären wir ganz gewöhnliche Bahnhofssäufer und fielen der Kontrolle nicht auf. Sie nahmen uns als Händler gar nicht wahr. Das Geschäft lief gut: Wir hatten viele Stammkunden, zum Beispiel die ewig durstigen Zeugen Jehovas und die gut gebügelten Scientologen, die alle Züge aus Osteuropa empfingen, um die noch etwas orientierungslosen Ausländer zu überrumpeln und sofort zu ihrem Glauben zu bekehren. Viele Reisende, die zum ersten Mal ans Ufer des Kapitalismus gelangt waren, dachten, dass diese Drückerkolonnen des Herrn einfach dazugehörten. Die verwirrten Ausländer waren auch unsere besten Kunden, ebenso eine Menge Zigeuner und Afrikaner, die ebenfalls ihre Geschäfte am Bahnhof abwickelten. Und nicht zu vergessen: die japanischen Touristen.
Aber Mischa und ich waren zu ungeduldig: Mehr als eine Stunde wollten wir dem Geschäft nicht opfern, also gab es bei uns häufig Sonderangebote, oder wir tranken die restliche Ware selbst aus. Erleichtert fuhren wir dann nach Marzahn zurück. Deswegen hatten wir oft statt Geld nur Bauchschmerzen und einen leichten Kater als Gewinn.
Ganz anders Andrej. Er trank nie etwas selbst und konnte wegen zwei unverkauften Dosen die halbe Nacht lang auf dem Bahnhof stehen. Wenn das Geschäft nicht richtig lief, erhöhte er sogar die Preise von DM 1.80 auf DM 2.50. Andrej hatte seine eigene Verkaufsstrategie. Ständig experimentierte er mit dem Sortiment. Mal kaufte er bei Aldi noch zusätzlich ein Kilo Kaugummi, mal zwei Dutzend Duplo-Riegel, die er bescheiden auf den Boden neben das Bier platzierte und für 50 Pfennig das Stück verkaufte. Er sparte, ernährte sich fast ausschließlich von Müsli und führte gewissenhaft Buch über Einnahmen und Ausgaben. Bald hatte er das Geld für seinen ersten Fernseher zusammen, den er höchstpersönlich im Zug nach Polen auf einen Markt brachte. Mit hundert Mark Gewinn kam er zurück. Auf der nächsten Reise nahm er zusätzlich noch eine Stereoanlage mit.
Nach einem Jahr spielten Mischa und ich noch immer Gitarre in der Küche, während Andrej bereits seinen ersten Lebensmittelladen in der Dimitrowstraße eröffnete und einen VW besaß. Er ging richtig wissenschaftlich an die Sache heran und führte in der Umgebung seines Ladens eine Umfrage durch, um festzustellen, was er in erster Linie anbieten sollte. Laut dieser Umfrage hatte er dann vor allem drei Artikel im Sortiment: Jägermeister, Berliner Pilsner und Bild am Sonntag. Er wollte aber mehr und füllte den Laden schließlich mit den verschiedensten Sachen wie beispielsweise Glühbirnen und Nähzeug. Auch russische Lebensmittel nahm er ins Angebot. Wenig später heiratete er eine Frau aus St. Petersburg, die schließlich einen Sohn zur Welt brachte, den er Mark nannte. Uns erzählte Andrej, dass er von einer großen Familie träumte und sich viele Kinder wünschte. Mischa meinte dazu, dass er den zweiten Sohn wahrscheinlich Pfennig nennen werde, aber wie es jetzt aussieht, wird Andrejs nächster Junge wohl eher Dollar heißen.
Stalingrad
Seit einiger Zeit haben viele in Berlin lebende Russen, die sonst perfekte Kandidaten für Langzeitarbeitslosigkeit sind, wieder mal einen Job. Das Zauberwort heißt >Stalingrad<. Nunmehr als Film.
Bei der 180 Millionen Mark teuren Filmproduktion von JeanJacques Annaud spielen die Russen Russen. Zwar zahlt Annaud die niedrigsten Statistenlöhne in Europa, dafür sind aber alle für eine Weile vollbeschäftigt. Sie müssen ja Stalingrad erstürmen, das jetzt erst einmal in Krampnitz bei Potsdam nachgebaut wird. Mindestens drei mir bekannte russische Schauspieler behaupteten, sie wären von Annaud für die Hauptrolle des authentischen Scharfschützen Visilij, auserwählt worden. Alle drei hatten die Ehre, dem Meister persönlich vorsprechen zu dürfen, und alle drei haben bereits die entsprechenden Drehtage in ihren Terminkalendern eingetragen. Mir
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