Russisch Blut
das Fest gestern abend hatte sie ihren Kleiderschrank geöffnet. Gudrun wählte ein schwarzes Samtkleid mit Spitzen an Ausschnitt und Ärmeln, steckte sich die Haare hoch, trug Lippenstift auf. Wie eine Großstädterin. Sie war aus Berlin evakuiert worden, nachdem eine amerikanische Bomberflotte das Haus in Schutt und Asche legte, in dessen Keller ihre beiden Kinder und die Mutter begraben wurden.
Nur Lida wollte sich nicht schön machen und war weinend aus der Küche gelaufen. Lida war erst vierzehn. Sie hatte nicht viel erzählt von dem Tag, an dem die Russen über Cosel hinwegrollten. Und keine der Frauen hatte sie gefragt, wie oft es gewesen sei. Und wie viele.
Warum auch? Worüber man nicht reden kann, darüber muß man schweigen, fand Mathilde – und spürte wieder den Kloß im Hals, wie das erste Mal, als Elisabeth ihr Lidas Geschichte erzählte.
Sie fühlte sich hier in Dammwiese wie in einer Luftblase, während um sie herum die Menschen in die Barbarei taumelten. Es war der Krieg, er gewöhnte an die Gewalt. Was hatte Elisabeth gestern gesagt? »Die unseren haben sich im Osten womöglich auch nicht besser aufgeführt. Den Preis bezahlen wir.« Auch ein vierzehnjähriges Mädchen?
Mathilde polierte das Silberbesteck, als ob es sich noch lohnte. Elisabeth dachte nicht daran, irgend etwas zu verstecken – das Porzellan, die Bilder, den Schmuck oder die Uhren. Die Russen würden kommen, sie überrollen und dann weitermarschieren. Man mußte den Kopf einziehen und abwarten, bis die Welle vorübergerauscht war. »Wer jetzt flieht, wird eingeholt«, hatte Elisabeth behauptet.
»Ob von Deutschland etwas übrigbleibt?« Gudruns belegte Stimme klang ihr noch im Ohr.
Wer weiß, dachte Mathilde.
»Sie können uns ja nicht alle totschlagen!«
Wer weiß.
Man mußte abwarten. Der Weg nach Westen war versperrt. Die Oderbrücke lag unter Beschuß; ein Nachbar hatte sich vor ein paar Tagen hinausgewagt und berichtete von russischen MiGs, die aus Bordkanonen und Maschinengewehren auf alles feuerten, was sich noch regte; von zusammengeschossenen Trecks, zersiebten Menschen und Pferden.
Bleiben. Nicht zurück-, nicht vorwärtsdenken.
Mathilde nahm die Schüssel mit dem Abwaschwasser und ging hinaus. Es war Frühling geworden, ohne daß sie etwas davon mitgekriegt hätte. Grüner Flaum bedeckte die Äste, die Forsythien wurden schon gelb. Sie schüttete das Wasser in den Putzeimer im Hof und nahm den Weg die Anhöhe hinauf. Über einer der glitzernden Wasserflächen des Sumpflandes am Rande der Oder kreiste ein Reiher. Sie hielt ihr Gesicht in die Morgensonne. Dort, weit weg, lag Jechow. Das Gutshaus sei abgebrannt, hatte jemand erzählt, der es von jemand anderem gehört hatte.
Der Geschützdonner war in den letzten Tagen leiser geworden. Gudrun hatte gestern lachend behauptet, es sei alles schon vorbei, nur sie hier in der Einöde hätten nichts davon mitgekriegt.
Am Himmel stand ein Roter Milan und schrie. Als Mathildes Blick wieder hinunterging zum fernen Horizont, hatte sich dessen Kontur verändert. Er bewegte sich. Sie stand und starrte, bis ihr die Augen tränten. Der Stolz verbot ihr, in Panik davonzurennen. Aber schon stolperte sie den Hang hinunter zum Dorf. Vor der Kirche blieb sie stehen. Was sollte sie sagen? Sie kommen?
Der Pfarrer trat aus der Kirche und sah sie fragend an. Zwei kleine Mädchen hüpften einem Ball hinterher. Eine Frau mit einer Milchkanne in der Hand und einem Kopftuch auf den grauen Haaren eilte geschäftig vorüber.
Sie kommen.
Die Frauen verkrochen sich in den Eiskeller, der im Park in einen Hang gebaut war, ein ganzes Stück entfernt vom Wohnhaus. Es roch erdig und war dunkel dort unten. Kein Laut war zu hören, nur Lidas angstvolles Atmen. Und dann betete jemand, hastig wispernd, wie ein Kind. Das Geräusch, das draußen langsam näherkam, war mit nichts zu vergleichen, was Mathilde jemals gehört hatte. Es begann damit, daß die Weinflaschen leise klirrten. Der Boden vibrierte. Und dann rollte es heran und vorbei auf der Straße, die hinunter zur Oder führte, wie eine Flutwelle, Stunde um Stunde, eine unbeschreibliche Kakophonie, markerschütternd und nervenzerfetzend. Als der Lärm verebbte, glaubte sie aus dem Dorf Schreie und Johlen zu hören.
Am Morgen war der letzte Panzer am Haus vorbeigezogen. Niemand hatte ihr Versteck gefunden, die Kellertür aufgerissen, die Frauen hinausgezerrt. Mathilde war die erste, die es wagte, die Tür einen Spalt weit zu öffnen. Der
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