Russische Freunde
Lillas Frage jetzt war, ob ich mich um Mama kümmern konnte.
«Wann ist denn euer Flug?»
«Das ist es ja eben. Wir müssen spätestens um neun auf dem Flughafen sein, das heisst, wir müssen um sechs aus dem Haus. Deshalb rufe ich so früh an.»
«Bis dann kann ich aber nicht bei euch sein. Ich meine, selbst wenn ich den nächsten Zug nehme, das reicht nicht.» Meine Schwester wohnt in Spiez.
«Nein, ich werde Mama einen grossen Zettel schreiben, dass du kommst. Jemand sollte ein paar Tage bei ihr bleiben. In deiner Wohnung geht das nicht, und bei Mama hat es zu wenig Platz. Deshalb bleibst du am besten hier in Spiez mit ihr, sozusagen ein paar Gratisferientage für dich. Nur solltest du unbedingt einen Arzttermin für sie organisieren, sie selber macht das ja nicht.» Sie wartete einen kurzen Moment, im Hintergrund ging es hektisch zu und her, und eines der Kinder schrie nach ihr. «Machst du das?»
Ich zog mich an, die Temperatur in der Wohnung war nahe am Gefrierpunkt, weil ich gestern Abend vergessen hatte, Öl nachzugiessen. Und da ich den Computer neuerdings im Büro hatte, konnte ich nicht einmal nachsehen, wann die Züge fuhren. Ich fluchte, als ich einen Socken über den kleinen Zeh zog, er tat wirklich weh.
Dann fiel mir der Mietwagen ein. Ich hatte ja ein Auto und brauchte nicht auf den Zug zu stressen. Etwas besser gelaunt, stellte ich die italienische Espressokanne auf den Herd und packte für meinen Aufenthalt in Spiez ein paar Sachen. So langsam wurde ich wach. Dass meine Schwester gar nicht erst auf die Idee kam, ich könnte eigene Verpflichtungen haben, ärgerte mich. Sie ging einfach davon aus, dass ich Zeit hatte. Gratisferien. An dem Punkt stoppte ich meine Gedanken. Es war auch noch so verdammt früh.
Mama schlief, als ich ankam. Die Sonne schien durch die breite Fensterfront in die Wohnküche, wo meine Schwester für meine Mutter und mich einen Frühstückstisch gedeckt hatte. Ich bediente mich an den aufgebackenen Croissants. Der Blick, den ich vom Esstisch aus auf den glitzernden Thunersee und die Berge hatte, war fantastisch. Das Panoramafenster reichte rund um den Esstisch an zwei Seiten bis zum Boden, was einem das Gefühl gab, mitten in der Landschaft zu sein, umgeben von Weinbergen. Im hinteren Teil des Raumes befand sich ein bauchiger Tonofen, an den ich mich nicht erinnern konnte. Sitzkissen in bunten Farbtönen lagen verteilt auf dem Boden. Ich stand auf und studierte die cd-Sammlung, die fast die ganze rückwärtige Wand einnahm. Kopfhörer der besten Qualität lagen auf dem Wiedergabegerät. Ich sah Theo, meinen Schwager, vor mir, wie er mit den Kopfhörern dasass und sich auf ein Konzert der Gubaidulina konzentrierte. Ich stellte mir weiter vor, wie aus dem Kinderzimmer Popmusik dröhnte. Ich wusste nicht, wie gut das zusammen ging. Aber andererseits, wenn ich hier in der sonnendurchfluteten, warmen Stube stand, hatte ich definitiv nicht das Gefühl, jemanden aus der Familie bemitleiden zu müssen.
Ich ging und holte die Dokumente, die ich in Perrens Hotelzimmer gefunden hatte, aus meiner Handtasche. Auf zwei Sitzkissen drapiert, die warme Sonne im Gesicht, studierte ich die Unterlagen. Nach ihnen hatte AdFin, und nicht Katrin Näf, der Stadt die Jugendstilvilla verkauft. Näf musste das Haus also an AdFin veräussert haben. Ein ziemlich häufiger Besitzerwechsel: von der alten Frau zu Katrin Näf, von der zu AdFin und schliesslich an die Stadt. Die übrigen Dokumente in Perrens Mappe betrafen andere Liegenschaftsverkäufe, in einem weiteren Fall war AdFin der Käufer. Es handelte sich um einen heruntergekommenen Hotelkomplex im Seeland, von dem ich wusste, dass er leer stand, weil seit Jahren kein Pächter mehr gefunden werden konnte. AdFin investierte also in Immobilien in der Schweiz.
Dann sah ich etwas, was mich für den restlichen Vormittag erschütterte. Den Briefkopf über diesem und über allen anderen Dokumenten in Perrens Mappe, den Briefkopf von Perrens Kanzlei, ich hatte ihn schon oft gesehen. Er war auf vielen, wenn nicht auf fast allen Erbschaftsunterlagen von Tobias Bucher gewesen. Das Erbschaftsamt schien in Notariatssachen regelmässig mit Perren zusammenzuarbeiten – jedenfalls in denen, für die Tobias sich interessiert hatte. Weil der Name Perren nicht im Briefkopf der Kanzlei erschien, hatte ich das übersehen. Die Verbindung von Perren zu Tobias Bucher, sie war die ganze Zeit über vor meiner Nase gewesen. Ich war schockiert.
Mama stand auf, fand es
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