Russische Freunde
Luftzug spürten. Das Trottoir war eng, und ihr Gesicht lag trotz der Strassenlaternen im Schatten. Diesmal log ich nicht. Ich erzählte, dass ich eine Freundin von Juri sei, einem Studenten, den auch Tobias gekannt hatte. Dass beide jungen Männer gestorben waren, im Falle von Juri sei es vermutlich Mord gewesen. Dass ich mehr wissen wollte über den Tod ihres Bruders, weil mir das vielleicht helfen würde, Juris Tod zu verstehen. Dann mussten wir zur Seite treten, um drei junge Mädchen mit grossen Sporttaschen vorbeizulassen.
Bettina Bucher brauchte eine Weile, bis sie mich als die Frau wiedererkannte, die sie einmal zu Hause besucht und sich als Mitarbeiterin der Universität ausgegeben hatte. Ich versuchte zu erklären, weshalb ich das getan hatte, aber es interessierte sie nicht. Was sie interessierte, war Juris Tod. Sie hatte nichts davon gewusst. Wir verabredeten uns für später, sie wollte vorher noch kurz zu Hause vorbeischauen.
Ich wartete über eine Stunde im Bahnhofsrestaurant, einem sehr kleinen Raum mit nur drei Tischen und einer Theke. Am Stammtisch sassen fünf Männer hinter ihren Biergläsern, und ich vermutete, dass sie auch den Nachmittag hier verbracht hatten. Sie versuchten, mich in ihr lautes und trostloses Gespräch hineinzuziehen, an dem sich auch die Wirtin hinter der Theke beteiligen musste. Das war ihr Beruf.
Die Bahnhofskneipe war mein Vorschlag gewesen, aber es würde schwer sein, sich hier diskret zu unterhalten. Als Bettina endlich auftauchte, schlug ich vor, in den Warteraum des Bahnhofs zu gehen.
Es war zu kalt für einen Spaziergang, ausserdem war es finster. Selbst im Warteraum, einem gläsernen Kasten, spürte ich die aufdringlichen Blicke des Stammtisches auf meinem Rücken. Die Männer starrten zu uns herüber, irritiert durch die Tatsache, dass wir uns lieber im ungemütlichen Warteraum unterhielten als bei ihnen.
Bettina hatte Tobias’ Abschiedsbrief mitgebracht, säuberlich eingepackt in einer Klarsichtmappe, in der sich auch der Briefumschlag befand. Als sie meinen verwunderten Blick bemerkte, kommentierte sie, dass die Polizei den Brief untersucht und in dieser Form zurückgegeben hatte.
«Und?», fragte ich.
«Nichts. Aber auch die Polizei fand, dass es sich um einen ungewöhnlichen Abschiedsbrief handelt. Computergeschrieben. In einem Couvert in den Briefkasten gesteckt. Ich jedenfalls würde ihn auf einen Tisch legen, oder aufs Bett, irgendwohin. Ich kann mir nicht erklären, weshalb Tobias ihn in den Briefkasten gesteckt hat.»
Ich sah mir den Briefumschlag an, er war neutral und nicht beschriftet. Der Brief begann mit «Liebe Mutter, lieber Vater, meine lieben Schwestern.»
Tobias schrieb, dass er sich den Schritt reiflich überlegt habe und dass er sich sicher sei, das Richtige zu tun. Dass sie nicht um ihn trauern sollten, weil er es so gewollt habe, und dass es ihm leid tue, weil es für sie sicher schwierig sei. Seine Eltern treffe keine Schuld, seine Kindheit sei das Beste in seinem Leben gewesen. Aber, schrieb er, er habe sich in der letzten Zeit viele Gedanken gemacht und sehe keinen Sinn in seinem Leben, auch wenn sie das sicher nicht verstehen könnten.
Leere Worte. Einen Hinweis auf etwas Konkretes, was ihn zu dem Schritt veranlasst haben könnte, gab es nicht. Der Brief war unterschrieben mit Euer Tobias, auch das nicht von Hand. Das war doch sehr komisch, auch wenn die Jungen heute für alles den Computer benutzten. Was sich noch im Couvert befand, war ein Foto von drei Kindern, die an einem See im knietiefen Wasser standen und, obschon ganz verschieden alt, in ein ernstes Gespräch vertieft schienen. Eine Aufnahme aus ihrer gemeinsamen Kindheit, von Ferien am Gardasee, erklärte Bettina. Eindeutig das Persönlichste am ganzen Brief.
«Eigenartig», sagte ich und sah Bettina an.
Bettinas Augen waren wässerig. Sie war knapp zwanzig Jahre alt, hatte braune, gerade Haare und ein unauffälliges, ebenmässiges Gesicht. Sie trug eine sehr kurz geschnittene Jacke, in der sie sichtlich fror. Es war ungemütlich im Warteraum, und mehr als einmal mussten wir das Gespräch unterbrechen, weil jemand hereinkam, um sich einen Fahrplan zu holen. Die Leute spürten, dass ihre Anwesenheit störte, verliessen den Raum und warteten draussen auf ihren Zug. Sobald sich niemand mehr im Raum befand, erzählte Bettina weiter. Die Eltern fanden in der Religion Erleichterung, und sie hofften, die Töchter würden ihnen dabei folgen. Dauernd wollten sie Bettina zu
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