Russische Freunde
Strasse.
Das Licht reichte zum Lesen nicht aus. Nur wenn ich den Kopf schräg nach hinten legte und Lothar Perrens Agenda in einem bestimmten Winkel zur Kerze hielt, konnte ich überhaupt etwas erkennen. Aber ich war froh um den Lärm und um die Leute um mich herum. Vom Hotel aus war ich geradewegs auf die Markthalle mit ihren Menschenmassen zugerannt. Ich wollte in der Menge verschwinden. Die Markthalle war so voll, dass es schwierig gewesen war, einen freien Tisch zu finden, obschon sich über zwei Stockwerke Restaurant an Restaurant reihte. Am frühen Freitagabend herrschte hier Hochbetrieb. Nun sass ich in einer bläulich eingerichteten Bar im unteren Stockwerk, das wenige Licht wurde durch silbrige Tüllvorhänge zusätzlich gedämpft. Vor mir Wodka und Salznüsse. Rund um mich herum junge Menschen, die sich für das Wochenende in Stimmung brachten.
In Perrens Agenda waren überraschend wenige Termine notiert, und die ersten Einträge stammten vom August. Ich schloss daraus, dass er noch eine andere Agenda besass. Im Nachhinein fand ich, ich hätte mir in Perrens Zimmer ruhig mehr Zeit lassen sollen. Den Schreibtisch durchsuchen statt zu flüchten. Ich griff nach meiner Handtasche und zog das grosse gelbe Couvert heraus. Eine Gruppe junger Frauen steuerte auf meinen Tisch, den einzigen mit noch freien Stühlen, zu. Eine von ihnen fragte höflich um Erlaubnis, dann machten sich die Mädchen um mich herum breit, sie quetschten sich zum Teil zu zweit auf einen Stuhl. So bedrängt und eingezwängt, öffnete ich das Couvert. Ich entnahm ihm einen Stapel Kopien, bei denen es um Liegenschaftsverkäufe ging, soweit ich das bei Kerzenlicht beurteilen konnte. Inzwischen hatten sich noch weitere Jugendliche zu den Mädchen an meinem Tisch gestellt und standen mit Gläsern in der Hand um uns herum. Ich überliess meinen Stuhl einem jungen Mann und suchte mir einen Platz an der Bar.
Das Licht war hier nicht viel besser. Aber das Wesentlichste begriff ich auch so. Bei einem der Liegenschaftsverkäufe ging es um die Jugendstilvilla, die die Stadt für das Historische Museum erworben hatte. Die Unterlagen in meinen Händen belegten, dass die Stadt sie von AdFin gekauft hatte. Die Angelegenheit, mit der sich Tobias Bucher befasst hatte. Es gab sie, die Verbindung. Von Perren und AdFin zu Tobias Bucher.
24
Ich träumte vom Sommer in einer sonnendurchfluteten Gegend, von einer schräg abwärtsführenden Strasse in einer staubigen Ortschaft. An die bunten Türen der kleinen Holzhäuser waren Fotografien gepinnt. Irgendwo hupte in regelmässigen Abständen ein Lastwagen, vermutlich fuhr er rückwärts, weil er die Strasse nicht hochkam. Chinesische Touristen wuselten geschäftig von Haus zu Haus, damit beschäftigt, die an den Türen angebrachten Fotografien zu fotografieren. Ich stellte mich dazu und sah, dass es sich um Pin-ups von jungen Mädchen handelte.
Das Telefon läutete, leise, aber unbarmherzig eindringlich. Draussen war es noch finster, die Wohnung eiskalt, und, ohne das Licht anzumachen, stolperte ich barfuss in die Stube. Ich stiess gegen einen Stuhl. Ich hasse das schnurlose Telefon, nie weiss ich, wo es liegt.
Meine Schwester war am Apparat, auf dem Display sah ich, dass es 5:30 Uhr in der Früh war. Ich war jetzt hellwach, brachte aber nur ein Ächzen heraus.
«Hallo Ilka, ich hoffe, ich habe dich nicht zu sehr erschreckt. Hör mal, Mama hatte gestern einen Schwächeanfall. Sie war am Abend bei uns zu Besuch, und ich habe gemerkt, dass sie sich nicht wohlfühlt. Sie hat sich ein bisschen erbrochen. Wir sind dann spät am Abend in den Notfall gegangen. Also, ein Infarkt war es nicht. Sie haben das Wichtigste durchgecheckt, aber sie wollte auf keinen Fall im Spital bleiben. Sie hat hier bei mir geschlafen. Jetzt schläft sie noch.»
«Scheisse», das war das erste, was ich herausbrachte. So halb bezog es sich noch auf meinen kleinen Zeh, der ziemlich wehtat, denn ich hatte ihn mit aller Wucht gegen das Stuhlbein gestossen. Mir war noch nicht ganz klar, weshalb Lilla um fünf in der Früh anrief, wenn Mama doch schlief und seit gestern Abend bei ihr war.
«Aber so richtig schlecht geht es ihr nicht, oder? Ich meine, ist es bedrohlich?», fragte ich.
«Nein, ich glaube nicht. Aber das Problem ist, dass Theo, ich und die Kinder heute in die Herbstferien fahren, wir haben für heute Vormittag die Flüge gebucht nach Kreta. Mama hat dir das sicher erzählt.»
Gut möglich, ich wusste es nicht mehr. Ich nahm an,
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