Russisches Requiem
herumzeigen. Er war in der Zone, es sollte also etwas über ihn vorliegen.«
»Natürlich, Alexei Dimitrijewitsch. Und danke. Sie können sich auf mich verlassen.«
»Ich weiß. Aber jetzt gehen Sie nach Hause. Ich schreibe noch den Bericht fertig. Morgen reden wir weiter.«
Das ließ sich Semjonow nicht zweimal sagen und war bald darauf verschwunden. Koroljows Blick hing noch eine Weile an dem leeren Stuhl des Jungen, dann schob er seine Sorge um ihn beiseite und begann die Entwicklungen des Tages zu dokumentieren. Es dauerte nicht lange, da er nur einen Teil seiner Erkenntnisse zu Papier bringen durfte. Den Rest musste er mündlich mitteilen.
Als er fertig war und den Bericht gerade auf Schreibfehler überprüfte, hörte er plötzlich einen gedämpften Schuss, der offenbar im Haus gefallen war. Sofort zog er seine Walther aus dem Halfter, entsicherte sie und öffnete ganz vorsichtig die Tür. Auf der anderen Seite schlichen sich die Kollegen aus den Zimmern 2C und 2D mit gezückten Waffen auf den Gang.
Er richtete seine Pistole zur Decke und flüsterte Paunitschew aus 2C zu: »He, Semjon. Verdammt, was war das?«
Paunitschew schob sich weiter durch den Korridor und flüsterte zurück: »Das werden wir gleich rausfinden.«
Dann erkannte Koroljow General Popows Stimme und legte den Sicherungsriegel wieder vor. Dem Klicken folgten mehrere andere im Gang. Entschlossen schritt Koroljow zum Treppenhaus, das auf jedem Stockwerk von neugierigen Gesichtern gesäumt war. Der General blickte aus dem dritten Geschoss nach unten.
»Andropow hatte einen Unfall, nur keine Sorge. Der Krankenwagen ist schon unterwegs.« General Popow wirkte bleich im elektrischen Licht. »Los, geht wieder an die Arbeit oder in eine Kneipe. Wenn ihr alle gleichzeitig auf der Treppe steht, stürzt sie noch ein.«
Die Milizionäre lachten leise und zerstreuten sich. Koroljow nutzte die Gelegenheit, seinen Bericht nach unten zu den Schreibkräften zu bringen.
Anna Solowjowa spähte durch die Klappe, das Gesicht weiß im Schatten. »Was ist passiert? Ich habe einen Schuss gehört.«
»Nichts, ein Unfall, glaube ich.«
Daran glaubte sie offenbar genauso wenig wie er.
Zurück im Büro, las er die Verhörprotokolle noch einmal durch, für den Fall, dass ihnen etwas entgangen war. Schließlich erinnerte ihn die Uhr daran, dass es schon fast sieben und Zeit zum Aufbruch war. Nachdem er Mantel und Mütze aufgesammelt hatte, hielt er im ersten Stock vor der Kantine; er ließ sich sein wöchentliches Lebensmittelpaket aushändigen und schob es sich unter den Arm. Dazu gesellte sich kurz darauf der frisch getippte Tagesbericht, den ihm Anna Solowjowa voller Stolz überreichte, als er die Schreibstube passierte. Sie musste geschrieben haben wie eine Besessene. Er bedankte sich herzlich.
Draußen war es so kalt, dass seine Augen schmerzten. Als er den Kragen hochschlug, bemerkte er den General bei einem Krankenwagen, in den gerade eine Bahre geladen wurde. Die Leiche war mit einer Decke verhüllt, aber Koroljow ging davon aus, dass es Andropow war - also ein tödlicher Unfall. Er murmelte ein Gebet für den Toten und nahm die Mütze ab. Andere Leute, die das Haus verließen, waren stehen geblieben, und fünf oder sechs bildeten eine feierliche, dunkle Gruppe auf der breiten Eingangstreppe. Sie warteten, bis der Rettungswagen abgefahren war. Niemand sagte ein Wort - es gab nichts zu sagen. Vielleicht war es wirklich ein Unfall gewesen, auf jeden Fall war es ein weiteres Loch in der Chronologie, das es zu vermeiden galt. Koroljow setzte die Mütze wieder auf und entfernte sich, ohne die anderen zu beachten. Soviel er wusste, war Oberst Andropow ein glücklich verheirateter Mann mit zwei Kindern und einer schönen Wohnung gewesen - ein Glückspilz. Offenbar hatte sich daran etwas Grundlegendes geändert.
Er beobachtete, wie der Krankenwagen um eine Ecke bog, dann passierte er den Schlagbaum und mischte sich unter die schweigenden Fußgänger in der Moskauer Nacht.
13
In der Bolschoi-Nikolo-Worobinski-Gasse wartete bereits Gregorins Wagen auf ihn. Die Tür öffnete sich, und der Oberst stieg aus. Er lehnte sich noch einmal zurück ins Automobil und wechselte einige Worte mit dem Fahrer, der als große schwarze Gestalt hinter dem Steuer saß.
Gregorin blickte auf die Uhr und lächelte. »Ein paar Minuten zu spät. Ein langer Tag?«
Etwas an seinem munteren Benehmen machte Koroljow wütend. Das Gefühl war so stark, dass er spürte, wie sich sein
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