Russisches Requiem
gegen das Gesetz verstoßen, sondern die Partei verraten. Ich möchte nicht die Gelegenheit versäumen, so einen Verräter zu fassen. Es ist meine Pflicht, und von Genosse Stalin wissen wir, dass die Pflicht immer vorgeht.«
Koroljow musste einsehen, dass sein Kollege nicht umzustimmen war. Im Grunde hatte er das schon vorher gewusst, doch er würde es sich nie verzeihen, falls dem Burschen später etwas zustieß und er nicht wenigstens einen Versuch unternommen hatte. So aber hatte er ihm die Wahl gelassen.
Mit einem Wink forderte er Semjonow auf, sich zu setzen. »Dann ist es abgemacht, Sie arbeiten weiter an dem Fall. Zunächst muss ich aber noch einige Dinge allein erledigen, bis die Situation etwas klarer ist. Das ist von meiner Seite keineswegs als Herabsetzung oder fehlendes Vertrauen gemeint, sondern einfach ein Gebot der Vernunft. Es hat keinen Sinn, wenn wir uns beide in Gefahr begeben. Nach meinem Treffen mit dem Amerikaner wurde ich wahrscheinlich verfolgt. Sie verstehen also. Mich hat schon jemand im Visier - und Sie sollten nicht auch noch auf seine Liste geraten. Auch so werden Sie jede Menge zu tun bekommen, glauben Sie mir. Aber um die politischen Aspekte kümmere ich mich fürs Erste selbst.«
Nach kurzer Überlegung antwortete Semjonow mit leiser Stimme: »Das akzeptiere ich, aber lassen Sie mich helfen, wo ich kann. Ich habe keine Angst vor den Folgen.« Er schaute Koroljow in die Augen. »Also, wie sieht unser nächster Schritt aus?«
Koroljow klopfte auf die Verhörprotokolle. »Zuerst sollten wir wohl die hier abarbeiten.«
»In Ordnung.« Semjonow grinste.
Koroljow schob ihm die obere Hälfte des Stapels zu. »Machen Sie sich Notizen zu allem, was Ihnen irgendwie relevant oder auch nur ungewöhnlich erscheint. Denken Sie daran, dass wir nicht wissen, wonach wir suchen. Halten Sie also Ausschau nach Dingen, die aus dem Rahmen fallen.«
Semjonow schlug sein Notizbuch neben dem ersten Protokoll auf. Kurz darauf schrieb er bereits. Koroljow nahm sich ebenfalls ein Verhör vor, in der Hoffnung, dass sich zwischen dem Geschwätz und den Denunziationen irgendein wertvoller Hinweis verbarg. Wie war es eigentlich dazu gekommen, dass jeder Moskauer, der einem Polizisten begegnete, die Gelegenheit nutzte, die Hälfte seiner Bekannten anzuschwärzen? Hier zum Beispiel dieser alleinstehende Mann, der anscheinend keiner Arbeit nachging, sich die ganze Nacht irgendwo herumtrieb und ein großes Zimmer ganz für sich allein hatte, während die Bürgerin Iwanowa mit ihrem Mann und vier Kindern in einem kleineren Zimmer hauste, das sie noch dazu mit einem jungen Paar und einem Baby teilen mussten. Wie hatte der Halunke das geschafft?, fragte die Bürgerin Iwanowa. Das musste doch ein Drogenhändler und Zuhälter sein. Koroljow war fast in Versuchung, der Sache nachzugehen, doch wahrscheinlich würde sich nur herausstellen, dass sein Onkel ein führendes Parteimitglied war.
So pflügte er sich durch die schmuddelige Realität des sowjetischen Lebens in der Rasin-Straße. Aus der Gemeinschaftsküche verschwundene Petroleumkocher, Trunkenheit im Wohnheim 12 der Metroarbeiter, zahlreiche männliche Besucher bei einer alleinstehenden Mutter. Hoffentlich wurde es bald besser, zumindest für die nächste Generation. Ihm fiel etwas ein, und er vergewisserte sich mit raschem Blättern, dass er Recht hatte. Niemand hatte mit den Straßenkindern gesprochen, die vor der Kirche herumstreunten. Einen Versuch war es wert. Kinder bemerkten häufig Sachen, die Erwachsene als selbstverständlich hinnahmen. Schnell machte er sich eine Notiz.
Es ging zäh voran. Bei der Lektüre von Verhörprotokollen kam es darauf an, einen zweifachen Schwerpunkt zu haben. Zum einen durfte man kein noch so banales Detail übersehen, zum anderen musste man es stets in ein größeres Ganzes einordnen.
Wie sich bestätigte, hatten Brusilows Leute ganze Arbeit geleistet. Das wunderte Koroljow nicht. Wer nicht auf Zack war, hielt sich nicht lange in Brusilows Revier. Selbst in besseren Zeiten hatte die Moskauer Miliz eine mühselige Aufgabe, doch in den letzten Jahren waren viele Bauern vom Land in die Stadt geströmt, getrieben von einer Mischung aus Hunger und der Aussicht auf eine Arbeit in einer großen Fabrik oder auf einer der zahlreichen Baustellen. Es war zwar nicht leicht, eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen, doch das schreckte sie nicht ab - wenn sie eine Arbeit fanden, folgte wahrscheinlich auch die Aufenthaltserlaubnis. Doch es
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