Russisches Requiem
hören konnte. Es klang nach Melchows Orchester. Er pochte noch einmal, falls man ihn nicht gehört hatte, dann ging die Tür auf. Eine kleine Frau in einem schwarzen Kleid und einem ehemals weißen Tuch über dem grauen Haar erschien. Ihre schlaffen, blassen Züge erzählten von durchlittener Not und vom Alter. Zwei traurige braune Augen arbeiteten sich von seiner Taille ab hinauf. Er nahm die Mütze ab. Vor diesem Gesicht fühlte er sich wie ein kleiner Junge.
»Wer sind Sie? Was wünschen Sie?« Die Stimme klang erstaunlich tief und laut für eine derart zarte Gestalt. Im Hintergrund lief die Schallplatte mit einem Kratzen aus.
»Ich bin Hauptmann Koroljow von der Moskauer Kriminalmiliz. Ich glaube, ich werde erwartet.«
»Ein Ment? Na, vielleicht sollte ich lieber nicht fragen.« Mit angewiderter Miene trat sie zur Seite. »Treten Sie ein, treten Sie ein. Sie lassen die Wärme hinaus. Meinen Sie, wir können es uns leisten, das Treppenhaus zu heizen, Genosse?«
»Danke.«
»Geben Sie mir die Mütze und den Mantel. Keine Sorge, ich verkaufe die Sachen schon nicht an einen Hausierer. Außerdem würde ich sowieso nicht viel dafür kriegen, sind ja nicht mehr die neuesten. Da.« Sie warf Mantel und Mütze in einem Haufen auf einen Stuhl. »Die Aktentasche können Sie auch hierlassen. Hier entlang. Haben Sie schon gegessen?«
Seit den Blintschiki auf dem Weg zum Stadion hatte Koroljow nichts Festes mehr zu sich genommen, aber es war unhöflich, die Lebensmittel anderer zu essen. Vor allem bei den langen Schlangen der letzten schlechten Ernte. »Ich habe keinen Hunger.« Er hoffte, dass ihn sein Magen nicht verriet.
»Natürlich nicht. Ich habe heute Morgen Käseklöße gekocht. Soll ich Ihnen einen Teller bringen?« Er schüttelte den Kopf.
Aber sie sah es ihm an der Nase an und drückte seinen Arm. »Natürlich bringe ich Ihnen einen.«
Im Wohnzimmer saßen fünf Leute um einen niedrigen Tisch voller Gläser, Flaschen und einem überquellenden Aschenbecher. Fünf Augenpaare blickten durch wogenden Rauch zu ihm auf.
»Wer ist das?« Ein kleiner, untersetzter Mann mit schütterem Haar hockte im Schneidersitz auf der Schlafcouch und starrte ihn durch golden gerahmte, runde Brillengläser an. Er trug ein kragenloses Hemd mit offenen Manschetten und eine alte Hose mit Hosenträgern. Das Hemd war blendend weiß gestärkt und schien das ganze Licht im Zimmer auf sich zu versammeln. Er lächelte Koroljow mit einem verschmitzten Funkeln in den braunen Augen zu. »Dein Hausfreund, Schura?«
»Ach, Isaak Emmanuilowitsch, wieder einer deiner kleinen Spaße. Und ich kann es dir nicht mal übelnehmen, du Ärmster, ich weiß ja, dass du es dringend nötig hast.« Die tiefe Stimme der Alten hallte aus der Küche herüber.
»Das ist Hauptmann Koroljow, unser neuer Nachbar, von dem ich gerade erzählt habe.« Walentina Nikolajewna erhob sich aus ihrem weichen Sessel. Sie trug ein Cocktailkleid mit einem Halsausschnitt, der wohlgeformte Schlüsselbeine und schwanenweiße Haut zeigte. Das Lächeln, mit dem sie ihn bedachte, war nicht unbedingt freundlich, aber auch nicht abweisend. Babel entknotete seine Beine und stand wie die anderen auf. Sein Lächeln war warm wie die Sonne.
Er winkte Koroljow auf einen Stuhl. »Willkommen, Genosse. Walentina kennen Sie ja, und Schura anscheinend auch schon. Das ist meine Frau Antonina Nikolajewna - Tonja -, und das hier sind der Dichter Awram Emiljewitsch Medwedjew und seine Frau Lena Jakowlewna. Schura, bring dem Genossen Koroljow ein Glas. Möchten Sie lieber Wein oder Wodka? Wir haben beides, wie Sie sehen.« Lachend zeigte er seine regelmäßigen weißen Zähne.
»Ein Glas Wein trinke ich gern«, antwortete Koroljow.
»Lassen Sie mich raten, Genosse. Nach einem langen Tag des Kampfs gegen das Böse sind Sie nach Hause gekommen, haben unsere kleine Gesellschaft gehört und sich gedacht, dass es eine gute Gelegenheit wäre, sich vorzustellen. Gott sei Dank haben Sie es getan, der arme Medwedjew langweilt sich schon.«
Mit einem halbirritierten Lächeln winkte der kleine Mann mit den wachsamen Augen und dem grauen Bart ab, ohne den Blick von Koroljow zu wenden. Er schien kurz davor, aufzuspringen und davonzulaufen - eine Reaktion, die man als Kriminalermittler gewohnt war. Früher hatte das bedeutet, dass die Menschen etwas zu verbergen hatte, doch inzwischen traf das nicht mehr unbedingt zu. Bei genauerem Hinsehen ließen die Blässe und Gebrechlichkeit Medwedjews allerdings darauf
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