Russisches Requiem
Gesicht unwillkürlich zu einer bösen Fratze verzog.
Gregorin sah ihn fragend an. »Stimmt etwas nicht, Genosse?«
»Nein, alles in Ordnung. Vor einer halben Stunde wurde die Leiche eines Kollegen mit einem Krankenwagen abtransportiert. Vielleicht ist es das.«
»Das tut mir leid. Ist ihm etwas zugestoßen?«
»Ein Unfall, heißt es.«
»Ich verstehe. Zurzeit gibt es viele solche Unfälle. Da bekommt Ihre Bekannte Tschestnowa einiges zu tun.«
»Ja, sieht so aus.«
Gregorin zuckte die Achseln. Koroljow verstand genau, was er meinte: So war es nun mal, und daran ließ sich nichts ändern.
»Haben Sie den heutigen Bericht dabei?«
»Ja.« Koroljow klopfte sich mit der freien Hand auf die Brust. Im Wagen stellte Koroljow sein Lebensmittelpaket auf den Boden.
Gregorin knipste ein kleines Deckenlicht an und deutete kurz nach vorn, ehe er zu lesen begann. »Das ist Wolodja, mein Fahrer. Wir können uns in seinem Beisein unterhalten.«
Wolodja drehte sich zu Koroljow um. Alles an seinem Gesicht schien sich zu wölben, bis auf die Augen, die durch schmale Schlitze spähten. Mit einer haarigen Pranke streckte er den Daumen hoch. Koroljow nickte zurück, abgelenkt von dem Wurstgeruch, der aus seinem Paket drang. Krakauer. Er hoffte, dass es nicht zu lange dauerte.
»Interessant, die Tätowierungen. Bekommen Sie bis morgen einen umfassenden Autopsiebericht?«
»Ja, und mit ein wenig Glück auch die Identität. Es gibt bestimmt eine Akte über ihn. Wenn man nach den Tätowierungen geht, muss er einen ganzen Aktenschrank für sich haben.«
»Und der Wagen?«
»Wenn es ein Emka ist... nun, an so einen kommt man nicht so leicht heran.«
»Stimmt.« Gregorin setzte ein selbstgefälliges Lächeln auf.
»Wir tun unser Bestes, ihn aufzuspüren, Genosse Oberst, aber es könnte sein, dass der NKWD da mehr Erfolg hätte.«
»Wir werden uns der Sache natürlich annehmen.« Gregorin blätterte die letzte Seite um und schaltete das Licht aus. »Was ist mit dem Amerikaner?«
»Wir hatten ein vertrauliches Gespräch, das aber nicht viel gebracht hat.«
»Keine Sorge, Schwartz ist nützlich für uns. Wir lassen die Amerikaner zufrieden, vor allem die, die nützlich sind.«
Der Oberst sprach das Wort »nützlich« auf eine besinnliche Weise aus, die Koroljow auf den Gedanken brachte, dass Schwartz vielleicht mehr für die Staatssicherheit erledigte, als ab und zu eine Ikone zu kaufen. Einen flüchtigen Moment lang versuchte er so zu tun, als hätte er eine andere Wahl, dann erzählte er Gregorin alles, was er von Schwartz erfahren hatte. Mit einem amerikanischen Pass und einer Rückfahrkarte nach New York in der Tasche hätte ihm Koroljow vielleicht etwas vorenthalten. Doch nach Lage der Dinge war Diskretion ein Luxus, den er sich nicht leisten konnte.
Als Koroljow zu Ende war, griff Gregorin in die Innentasche und brachte sein zerbeultes Zigarettenetui zum Vorschein. Er nahm eine für sich und dann jeweils eine für Koroljow und Wolodja heraus. Bald hing im Wagen dichter Qualm.
»Sie haben Recht«, bemerkte Gregorin nach einer Weile, »diese Nancy Dolan ist nicht Miss Smithson. Lydia Iwanowa Dohna heißt sie. Sie erinnern sich, dass ich gestern von zwei möglichen Kandidatinnen gesprochen habe. Nun, Bürgerin Dohna ist die andere. Ähnlicher Hintergrund - Weiße Armee und so weiter.«
»Aber keine Nonne?«
»Das wissen wir nicht, aber aus Schwartz' Angaben können wir schließen, dass sie zumindest religiöse Verbindungen hat. Unsere Leute arbeiten bereits daran. Ich gebe diese Informationen an sie weiter.«
»Schwartz sagt, sie war mit einer Intourist-Gruppe unterwegs.«
»Ja. Als sie sich von dieser Gruppe abgesetzt hat, ist ihre Tarnung aufgeflogen. Niemand bei der Komintern hat je von ihr gehört, aber wir behalten die Amerikaner dort für alle Fälle weiter im Auge. Möglicherweise ist es ihr genauso ergangen wie Miss Smithson, wenn nicht, werden wir sie früher oder später finden. In Moskau kann man sich nicht so leicht verstecken.«
»Sie suchen nach ihr?« Koroljow hustete. Inzwischen hätte man in dem Wagen Fische räuchern können.
»Nur wegen Verstoßes gegen die Visumpflicht. Wir wissen nicht, wie sie ins Bild passt, deshalb hängen wir die Sache nicht an die große Glocke. Ich gebe Ihnen eine Fotografie, für den Fall, dass Sie auf sie stoßen.«
Koroljow nickte dankend. »Und diese Ikone? Können Sie mir da etwas sagen?«
Gregorin ließ einen zarten Rauchflaum durch den Mund entweichen, ehe er den
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