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Russisches Requiem

Russisches Requiem

Titel: Russisches Requiem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Ryan
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zur Tribüne. Die Walther glitt wieder in Koroljows Tasche, Mischka tippte sich ironisch grüßend an die Mütze, und dann waren sie verschwunden, verschluckt von der angeheiterten Menge, die aufgeregt den Zieleinlauf verfolgte. Auf Babels Gesicht klebte das nach innen gerichtete Lächeln eines Mannes, der sich jede Einzelheit der zurückliegenden Begegnung einprägte, und dieses leise Lächeln gab Koroljow das Gefühl, in einer Geschichte gefangen zu sein, an der noch geschrieben wurde und auf die er keinen Einfluss hatte. Vielleicht war es diese innere Ohnmacht oder auch etwas Unheimlicheres, jedenfalls hatte er plötzlich die deutliche Ahnung einer unmittelbaren Gefahr. Als er den Blick über die Zuschauer schweifen ließ, fiel ihm nichts Bedenkliches auf, aber die Empfindung blieb, und wenn er aus sieben Jahren Krieg überhaupt etwas gelernt hatte, dann, dass er so etwas nicht ignorieren durfte. Er packte Babel hart am Arm.
    »Wir verschwinden hier.« Koroljow drängte ihn zum Ausgang. Die Kraft seines Griffs schien Babel zu schockieren, und er warf ihm einen empörten Blick zu, dem Koroljow keine Beachtung schenkte. Stattdessen drängte er sich durch die vor ihm stehenden Zuschauer und zog den Autor mit. Mit einiger Befriedigung nahm er Babels Verwirrung zur Kenntnis.
    »Pass auf, wo du hinlatschst, Freund«, rief jemand so laut, dass sich einige Leute nach ihnen umwandten. Allerdings klangen die Worte nicht unbedingt, als wären sie an einen Freund gerichtet.
    Koroljow fand sich einem fies grinsenden Arbeiter gegenüber, der anscheinend direkt aus der Fabrik kam. Der Riese, in dessen Gesicht sich Maschinenöl und Schmutz gegraben hatten, legte ihm eine Pranke auf die Schulter, um ihn aufzuhalten. Unwillkürlich stellte sich Koroljow vor, wie die dicken Wurstfinger ihre Abdrücke auf dem Stoff hinterließen. Sein einziger Wintermantel musste an diesem Tag einiges aushalten, vor allem wenn er an den Rasiermesserschnitt von vorhin dachte. Er spürte, wie Zorn in ihm hochstieg. Ein Blick zu Babel verriet ihm, dass ihm der Autor gar keine Aufmerksamkeit schenkte, weil er in erwartungsvoller Faszination den stämmigen Arbeiter beobachtete.
    »Lass den Bürger in Ruhe, Ment. Ihr seid alle gleich, ihr Scheißpolizisten. Die Leute schikanieren, das könnt ihr, aber sonst nichts.«
    Koroljow merkte, dass es um sie herum still wurde. Er fasste Babel noch fester, um ihn aus seiner Trance zu reißen. »Kommen Sie jetzt, Isaak Emmanuilowitsch. Wir müssen hier weg.« Er wollte weitergehen, aber der Arbeiter traf bereits Anstalten, ihn zu sich herumzuzerren. Babels Augen hinter den flaschendicken Brillengläsern wurden groß.
    »Ich hab gesagt, du sollst den Moische in Ruhe lassen. Was er für einer ist, sehen wir später. Aber jetzt rede ich mit dir, du kleiner Drecksterrier.« Die Stimme klang ein wenig lallend.
    Koroljow drehte sich mit dem Griff des Mannes, nur schneller, als dieser erwartet hatte. Erfüllt von kalter Wut, packte er den Hünen an den Schultern und riss den Kopf so weit zurück, wie es der Hals erlaubte. Aus den Augenwinkeln sah er, dass die Menschen vor dem Kampf zurückwichen, dann registrierte er schnappschussartig die überraschte Miene des Kerls, unmittelbar bevor er an einem lauten Knochenknirschen und dem stechenden Schmerz in der Stirn erkannte, dass er dem Mann die Nase zertrümmert hatte wie eine morsche Nuss. Der Arbeiter wankte einige Schritte zurück, das Blut lief ihm bereits übers Kinn, aber er blieb auf den Beinen und hob die Hände vors Gesicht, um sich zu verteidigen. Breitbeinig hielt er das Gleichgewicht, wie hypnotisiert von den Blutspritzern an seinen Händen. Ohne auf die eigenen Schmerzen zu achten, trat Koroljow wieder auf ihn zu, packte ihn am Kragen und stieß das Knie nach oben. Der benommene Arbeiter war zu langsam, um sich zu schützen, und als ihn Koroljows Knie voll im Unterleib traf, ging ein leises Seufzen durch die Menge - ein Laut, der Mitgefühl und Vergnügen zu verbinden schien. Mit einem Geräusch, das an eine seit Tagen nicht mehr gemolkene Kuh erinnerte, sackte der Riese nach vorn, und Koroljow ließ die hoch erhobene rechte Faust auf seinen Nacken niedersausen wie eine Axt. Damit war die Sache erledigt. Wie ein Mehlsack stürzte der Mann zu Boden. Koroljow bemerkte die spitzen braunen Mützen und roten Sterne von Milizuniformen, die in ihre Richtung drängten, aber sein Instinkt schrie noch immer, dass er verschwinden musste.
    »Hey, Ment, probier das mal bei

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