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Russisches Requiem

Russisches Requiem

Titel: Russisches Requiem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Ryan
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bewacht und an einem geheimen Ort aufbewahrt. Und dann vor zwei Monaten hat die Tscheka das Versteck entdeckt. Das Werk des Teufels.«
    Koroljow fragte sich, ob er auf den Arm genommen wurde. Er studierte Koljas Gesicht. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Das kann ich nicht glauben.« Vielleicht war es der Alkohol, der seinen Verstand träge machte, aber Koljas Geschichte überstieg einfach sein Fassungsvermögen.
    »Sie haben doch Tesaks Leiche gesehen? Wo war die Tätowierung?«
    »Rechts auf dem Bizeps.«
    Kolja zog die Weste aus und öffnete sein Hemd. Auf seiner Brust breitete sich die Kreuzigung Jesu aus. Als er das Hemd über den Arm nach unten zog, kam das Bild einer Ikone der Jungfrau mit dem Kind zum Vorschein: die Gottesmutter von Kasan. »Nur die führenden Banditen wussten, dass wir sie verborgen hatten, aber die gesamte Sippe weiß, dass sie uns beschützt.«
    »Nehmen wir an, dass das alles stimmt. Was hat das mit mir zu tun?«
    »Möglicherweise gar nichts. Aber Sie wollen doch den Mörder fassen, oder?«
    »Natürlich, das ist meine Aufgabe.«
    »Auch wenn er ein Tschekist ist?«
    Wieder verschlug es Koroljow fast den Atem bei der Einsicht, was für einen wahnwitzigen, lebensgefährlichen Kurs er da eingeschlagen hatte. Aber hatte er denn eine andere Wahl? Er war ein einfacher Mensch, und das war sein Weg. Es war sein Beruf, Mörder zu fangen und sie der Gerechtigkeit zu überantworten, und so schnell ließ er sich nicht von seiner Pflicht abbringen. Falls es irgendwann so weit kam, dass er vor der Wahl zwischen Pflicht und Leben stand, konnte er immer noch darüber nachdenken.
    »Ich untersuche die Mordfälle«, sagte er schließlich. »Und wenn es in meiner Macht steht, werde ich dafür sorgen, dass der Täter seine gerechte Strafe erhält.«
    »Sowjetische Gerechtigkeit?«
    »Sie ist nicht schlechter als andere. Das System ist sicher nicht vollkommen, ich bin nicht blind. Aber wir arbeiten für die Zukunft, eine sowjetische Zukunft. Und sie ist bestimmt nicht weniger fair als irgendeine verlogene Justiz der Kapitalisten.« Sein Bein bebte auf dem Heuballen. War das Zorn oder eine andere Regung? Alle Gewissheiten entglitten ihm. Aber wenn er nicht mehr daran glauben würde, dass die Führung für die Zukunft des Volkes arbeitete - nun, wo stünde er dann? In welcher Hölle würde er sich wiederfinden, wenn sich das Ganze als blutrünstige Lüge entpuppte? Er spuckte auf den Boden, um den Gedanken zu verdrängen, und tastete nach einer weiteren Zigarette. Er steckte sie sich in den Mund und griff nach seinen Streichhölzern, aber Kolja hatte ihm schon sein Feuerzeug hingestreckt.
    »Danke.« Koroljow merkte, wie barsch seine Stimme klang. Er inhalierte und bot seinem Gegenüber die Packung an.
    »Sie sind eine ehrliche Haut. Und Sie sind gläubig, nicht wahr?« Kolja schien ihn zu taxieren. »Das geht Sie nichts an.«
    »Vielleicht. Aber was ist, wenn Sie sich irgendwann entscheiden müssen zwischen der Loyalität zur Kirche und der Loyalität zu Genosse Stalin? Wie würde diese Entscheidung dann wohl ausfallen?«
    »Ich bin ein treuer Bürger der Sowjetunion.«
    »Aber kein Parteimitglied. Nun, wie auch immer, wir möchten die Ikone finden und sie der Kirche zurückgeben. Wir wissen nicht, wer sie aus der Lubjanka gestohlen hat, aber wir wollen dafür sorgen, dass sie dort landet, wo sie hingehört. Wir können sie hier nicht sicher verstecken, das haben wir inzwischen begriffen, und die Ikone ist wichtiger als unser Stolz. Aber wir sind nicht die Einzigen, die hinter ihr her sind, wie Sie wissen, und das sind die, die für den Tod von Tesak und der heiligen Schwester verantwortlich sind. Ich habe den Verdacht, dass es Tschekisten sind, die vor nichts zurückschrecken. Es steht ja auch ziemlich viel auf dem Spiel - die Ikone ist einen Haufen Geld wert. Aber wenn wir sie finden, bringen wir sie in Sicherheit, das heißt ins Ausland. Und Sie stehen jetzt vor einer Entscheidung. Melden Sie Ihren Vorgesetzten, was ich Ihnen gerade erzählt habe, oder nicht?«
    »Ich sehe keinen Grund, es nicht zu melden.«
    Kolja lächelte. »Soll ich Ihnen den Namen des Tschekisten verraten, der den Suchtrupp kommandiert hat? Den Suchtrupp, der uns die Ikone abgenommen hat?«
    Koroljow glaubte die Antwort schon zu erahnen.
    »Gregorin.«
    Da wusste er, dass die Zeit für die Wahl zwischen Pflicht und Leben gekommen war.
     

17
    Während gerade ein weiteres Rennen zu Ende ging, brachten die Banditen sie zurück

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