Russisches Requiem
Glaube.«
»Die Kasanskaja? Aber es gibt doch Millionen von Kasanskaja-Ikonen. Jedes frisch verheiratete Paar hat früher eine bekommen. Wegen so was muss doch niemand sterben.«
Koljas Miene war ernst, er schien nur darauf zu warten, dass er endlich begriff.
»Oder reden Sie von der Ikone aus der Kathedrale von Kasan? Die ist doch zur Zeit des Zaren zerstört worden. Das ist doch unmöglich.«
Kolja beobachtete ihn schweigend, während Koroljow nachdachte. In der orthodoxen Kirche wurden die Ikonen schon immer fast genauso sehr verehrt wie die Menschen, die sie darstellten. Die Kasanskaja war eine Ikone der Heiligen Jungfrau mit dem Jesuskind, benannt nach der Stadt Kasan, wo sie von der seligen Matriona auf wundersame Weise entdeckt wurde. Seither hatte sie Russland in der Stunde der Not beschützt. Poscharski und Minin stellten sie im 17. Jahrhundert vor ihrem Sieg gegen die Polen zur Schau. Ebenso geschah es vor der Schlacht von Borodino, bei der Napoleon vernichtend geschlagen wurde. Noch 1914 war Koroljow selbst auf dem Weg in den Krieg gegen die Deutschen daran vorbeimarschiert. Es gab wirklich Millionen Exemplare - vor der Revolution hatte in jedem Haus eine im Winkel gestanden. Aber das wunderkräftige Original war zu Beginn des Jahrhunderts gestohlen und dann von den verängstigten Missetätern zerstört worden. Zumindest hatte er das angenommen. Dann erinnerte er sich an das Bild der Ikone auf Tesaks Haut, und es fiel ihm wie Schuppen von den Augen. Wenn es sich lohnte, für etwas zu töten, dann für die Kasanskaja, die Schutzikone Russlands.
»O Gott.« Koroljow musste die Hand zur Faust ballen, um nicht in der Öffentlichkeit das Kreuzzeichen zu machen. »Verdammt und zugenäht, wollte ich sagen. Ihr habt sie die ganze Zeit aufbewahrt.«
»Nicht ganz. Es war viel komplizierter. Ich glaube, Sie wissen einiges über uns. Ein Ment versteht uns besser als ein normaler Bürger. Für uns ist die Welt geteilt in uns und alle anderen. Wir bereichern uns an den anderen, aber nicht aneinander.« Nach kurzem Zögern drehte Kolja die Hand hin und her, wie um anzudeuten: zumindest nicht allzu sehr. Er trank und reichte die Flasche wieder Koroljow.
»Wir haben Regeln, die strenger sind als alle Gesetze, glauben Sie mir, und wer sie bricht, muss leiden. Jeder Bandit weiß, was von ihm erwartet wird. Zum Beispiel ist es erlaubt, eine Kirche auszurauben - zumindest war es das, als es sich noch gelohnt hat -, aber wer einen Priester umbringt, hat damit sein eigenes Todesurteil gesprochen. Wir haben unsere eigene Ehre und unsere eigene Vorstellung von Recht, an die wir uns halten. Verstehen Sie?«
Koroljow nickte.
»Die Diebe der Ikone haben also Schande über uns gebracht. Natürlich wurden sie gefasst. Und die Hülle der Ikone wurde gefunden.« Er berührte sein Herz. »Aber dann haben wir gehört, dass sie die Ikone aus Angst verbrannt hatten. Nun, wären sie echte Banditen gewesen, dann hätten sie sich lieber umgebracht, als so eine Schandtat zu begehen. Sie haben uns vor der Welt und vor dem Himmel befleckt.«
Seufzend zog er an seiner Zigarette. »Unter dieser Bürde haben wir gelitten, vielleicht nicht alle, aber die Männer von Ehre, die Führer, die Wahrer der Tradition - unter anderem mein Vater und seine Brüder. Wir wollten Blut vergießen, um Buße zu leisten, und daher haben wir uns auf die Jagd gemacht. Die Männer, die die Ikone gestohlen hatten, waren von der Ochrana gefasst worden, aber es gab noch andere. Leute, die ihnen Unterschlupf gewährt hatten, Frauen, die sie geliebt hatten, Kinder, die von ihnen gezeugt worden waren. Wir haben sie alle zur Strecke gebracht.«
Trotz der tonlos gesprochenen Worte konnte sich Koroljow das Gemetzel gut ausmalen.
Kolja blickte auf und lächelte grausam, als hätte er seine Gedanken gelesen. »Dann haben wir sie gefunden. Fast durch Zufall. Ob Sie's glauben oder nicht, sie hing in einem Puff an der Wand. Die Madame war aufgefordert worden, sie mit ihrem Leben zu verteidigen, aber als wir sie vor die Wahl gestellt haben, hat sie uns alles verraten, was sie wusste, und wir haben sie verschont. Es war ein Wunder, wir wussten, wir hatten Vergebung erlangt. Und all die Jahre danach haben wir sie versteckt und beschützt. Als Satans Gehilfen, die sich mit dem Blutstern brüsten, die Priester auf offener Straße erschossen und die Gläubigen verschleppt haben, als sie die Kirchen entweiht und die Kathedralen mit Dynamit in die Luft gejagt haben, haben wir sie
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