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Russisches Requiem

Russisches Requiem

Titel: Russisches Requiem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Ryan
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Autopsiesaal. Trotz der heruntergelassenen Jalousien sickerte graues Licht herein - genug, um den Toten auf dem Stahltisch zu entdecken, dessen Kleider mit Schmutz und Blut besudelt waren. Doch erst als Tschestnowa die Lampe einschaltete, sah Koroljow, dass das Gesicht der Leiche schwarz von Prellungen war.
    »Können wir ihn ein wenig saubermachen, damit wir etwas erkennen?«
    »Natürlich, aber helfen Sie mir erst mal, ihn auszuziehen.«
    Tschestnowa musste die Militärjacke und das Hemd darunter an mehreren Stellen aufschneiden, um sie zu entfernen. Als sich der Hemdkragen von dem blutverklebten Hals löste, stieß sie einen leisen Pfiff aus.
    »Schau an, schau an. Irgendwo hat er sich eine Kugel eingefangen. Komisch - Betrunkene kriegen nur selten einen Genickschuss ab. Was meinen Sie dazu?« Sie beugte sich vor, um die kleine, dunkle Wunde zu untersuchen.
    Der Hemdstoff hatte so viel von dem verkrusteten Blut weggerissen, dass darunter ein Pulverkreis zum Vorschein kam, der sich in die Haut gebrannt hatte.
    »Verdammt.« Koroljow spürte wieder seinen Magen. »Sehen wir nach, ob er sich vielleicht noch andere interessante Verletzung en zugezogen hat.«
    Die Ärztin ging daran, den nackten Oberkörper des Toten mit einem kleinen Schlauch zu säubern. »Er wurde halb totgeprügelt, und da - Brandwunden von Zigaretten.« Sie deutete auf schwarze Male. Anscheinend hatte sich jemand große Mühe gegeben, dem Mann Schmerzen zuzufügen. »Glauben Sie, das ist alles in der Kirche passiert?«
    »Wer weiß?« Koroljow war sauer, weil die Milizionäre den Toten einfach im Leichenhaus abgeladen hatten.
    »Ihre Kollegen waren am Ende ihrer Schicht, und sie mussten die Leiche aus der Kirche schaffen, damit man mit den Abrissarbeiten weitermachen konnte.« Tschestnowa hatte ihm seine Verärgerung angemerkt. »Um tote Säufer schert sich heutzutage sowieso niemand mehr. Wir kriegen zwei oder drei am Tag. Und viele schauen so aus wie der hier. Aber meistens sterben sie nicht an Schlägen, sondern an dem, was sie getrunken haben. Der Milizionär, der ihn abgegeben hat, heißt Nikitin, falls Ihnen das weiterhilft. In den Unterlagen steht bestimmt, zu welchem Revier er gehört.«
    Im Mund des Toten fehlten mehrere Zähne, aber die Nägel des Mannes waren sauber, die Handflächen und Finger waren weich - keine Schwielen. Für einen Alkoholiker eher ungewöhnlich, sinnierte Koroljow. Dann fielen ihm die Abschürfungen an den Handgelenken auf, genau wie bei der Nonne, und mehrere Finger waren vollkommen verdreht.
    »Der Teufel soll den Kerl holen. Keine Fotografien oder Ähnliches, und der Tatort ist inzwischen unter Schutt begraben. Wann ist er Ihrer Meinung nach gestorben?«
    Tschestnowa strich mit den Fingern über die Haut des Toten. »Vor höchstens achtundvierzig Stunden - wenn ich ihn aufgeschnitten habe, weiß ich Genaueres.«
    Koroljow durchforstete die Jacke des Toten, fand aber nur einen Bleistiftstummel. Dann wandte er sich wieder der Leiche zu und suchte in der Hose. Auch dort nichts. Später hätte er nicht sagen können, was ihn dazu bewegte, die Füße ins Visier zu nehmen, doch als er es tat, bemerkte er sofort die leichte Ausbeulung in einer Socke, nicht mehr als ein Umriss. Als er der Leiche die Socke abstreifte, kam ein roter Ausweis zum Vorschein. Stöhnend las Koroljow die Buchstaben NKWD in schwarzem Prägedruck.
    »Ein Tschekist.« Koroljow senkte unwillkürlich die Stimme. »Name: Mironow, Boris Iwanowitsch. Rang: Major.« Er verglich die Fotografie mit dem Toten. Er war es eindeutig.
    »Was machen wir jetzt?« Die Pathologin war fast so bleich geworden wie der Tote.
    »Ich rufe jemanden an. Solange wir keine eindeutigen Anweisungen haben, darf ihn niemand sehen. Sie sagen nichts. Zu niemandem.«
    Unter diesen Umständen konnte er sich nur an eine Person wenden, und das war Gregorin - ganz egal, was Kolja über ihn erzählt hatte.
    »Koroljow?« Gregorins Stimme drang nur schwach durch das Rauschen in der Leitung. »Was kann ich für Sie tun?«
    »Ich bin im Institut, Genosse Oberst.« In knappen Worten fasste Koroljow seine Entdeckung zusammen. Als er zu Ende war, herrschte lange Schweigen. Er glaubte, in dem Knistern schweres Atmen wahrzunehmen.
    »Weiß noch jemand anders davon? Außer Sie und Tschestnowa?«
    »Ich bin mit Babel und Semjonow hier, aber sie sind nicht mit hereingekommen. Möglicherweise haben andere die Leiche gesehen, aber wenn, dann glauben sie sicher, es ist ein Besoffener, den seine

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