Ruth
wahnsinnig?“
„Wir verhungern“, sagte Noëmi
mit fester Stimme. „Und das ist schlimmer als Wahnsinn.“
„Aber die Moabiter sind die
Todfeinde unseres Volkes“, widersprach Joseph. „Sie werden euch bestimmt alle
umbringen.“
„Du vergißt, daß wir Schmiede
sind“, erinnerte ihn Machlon. „Ein altes Recht gewährt Schmieden und Zauberern
sicheres Geleit.“
„Haben die Moabiter jemals
unsere Rechte respektiert?“ fragte Boas grimmig.
„Schmieden aller Länder steht
sicheres Geleit zu“, erklärte Machlon. „Es spielt keine Rolle, daß wir
Israeliten sind.“
„Und Hungersnot respektiert
auch keine Rechte“, fügte Noëmi hinzu.
Boas erhob seine Hand. „Nein,
Schwester, wir wollen uns nicht streiten. In unseren Adern fließt das gleiche
Blut. In Betlehem ist nur Tob näher mit dir verwandt, als ich es bin. Außerdem
haben Machlon und ich schon als kleine Burschen geschworen, wie Brüder
zueinander zu sein.“
„Dieses Versprechen gilt für
mich noch immer“, sagte Machlon leise.
„Auch für mich“, stimmte Boas
bei. Einen Augenblick lang schien er in Gedanken verloren zu sein, als ob er
sich der Tage erinnerte, in denen er und Machlon in Betlehem ihre Jugend
verbracht und, wie es Jungen seit jeher getan haben, sich Blutsbrüderschaft
geschworen hatten. Und dabei wurden die harten Züge seines Gesichts weicher,
und sein trüber Blick erhellte sich.
„Seid ihr in den letzten Tagen
jemandem auf diesem Weg begegnet?“ erkundigte sich Joseph.
„Aus Moab?“ fragte Machlon.
„Aus Juda.“
„Vor uns verlaufen die Spuren
zweier Pferde.“ Machlon wies auf den Karawanenpfad. „Du kannst sie dort im Sand
sehen.“
Aus seinen Träumen
herausgerissen, ritt Boas einige Meter voraus und blickte auf den Pfad. Die
anderen versammelten sich um ihn. Sie lasen die Geschichte, die so deutlich in
den Sandspuren geschrieben stand.
„Zwei Pferde“, sagte Boas mit
plötzlich harter Stimme. „Und ein Reiter leicht im Sattel.“
Der Schmerz in seiner Stimme
ließ Noëmi aufhorchen. „Was ist geschehen, Boas?“ fragte sie rasch.
„Die Frau, die das Bett mit mir
teilte, verließ mich in der Nacht mit einem anderen Mann“, stieß Boas heftig
hervor. „Während ich mit dem Rat kämpfte, um Israel zu retten, nahm ein
Moabiter meinen Platz in ihren Armen ein.“
„Ein Moabiter?“ rief Machlon aus.
„Bist du sicher?“
„Man hat sie gesehen, als sie
Betlehem verließen. Cheb, der Sohn der Irren, der in der Nähe des Tores wohnt,
handelt mit Moab. Er erkannte den Mann.“
„Cheb ist ein Lügner und ein
Dieb!“ entrüstete sich Noëmi. „Es ist bekannt unter den Frauen, daß er beim
Wiegen betrügt und schlechte Ware verkauft.“
„Diesmal hat er jedoch die
Wahrheit gesagt“, erwiderte Boas leise. „Andere sahen sie auch.“
„Warum reitest du hinter ihr
her, wenn sie dich aus eigenem Willen verlassen hat?“ fragte Noëmi.
Schmerz überzog Boas’ gequältes
Gesicht. „Willst du mir das Leben des Mannes versagen, der sie mir genommen
hat?“ stieß er zornig hervor.
„Nein“, gab Noëmi zu. „Das
Gesetz verlangt es so. Angenommen, du findest Tamar: Was wirst du tun?“
„Wenn sie lebt, werde ich sie
nach Betlehem und vor den Rat bringen.“
„Aber sie werden sie
steinigen.“
„Das Gesetz fordert es“,
erinnerte sie Boas. „Wir werden mit euch zur Stätte der Begegnung reiten und
die Nacht dort verbringen, Machlon. Morgen werde ich sie bis nach Moab hinein
verfolgen.“
Machlon nickte, aber seine
Augen blickten zu den Geiern, die vor ihnen am Himmel kreisten. Und er fragte
sich, was sie wohl an der Zufluchtsstätte vorfinden würden.
2
Zu jener Zeit herrschte in der
Hauptstadt Heschbon König Zebuschar über Moab, der „göttliche Sohn Kamoschs“,
des Gottes der Moabiter, als dessen sterbliches Ebenbild er galt. Die südlichen
Stämme der Edomiter waren eigentlich ein friedliches Volk, das sich um seine
Herden kümmerte, aber die Moabiter des Nordens waren grausam und kriegerisch,
erfahren im Umgang mit Schwert, Lanze und dem eisernen Streitwagen.
Am selben Tag, als Noëmi und
ihre Familie auf dem Weg zur Zufluchtsstätte auf Boas trafen, ritt eine
achtköpfige Truppe auf dem undeutlichen Pfad, der dem Jordan und der Ostküste
des Toten Meeres entlang von Edom nach Moab führte. Der Anführer war ein Riese
mit hellen blauen Augen, die wenig von den sich dahinter verbergenden Gedanken
verrieten. Seine Gesichtszüge waren schroff, jedoch auf
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