Rywig 09 - Ich zähl die Tage im Kalender
war so vertieft in einen Brief von Mutti.. es waren so viele Neuigkeiten drin.“
„Hoffentlich gute!“ lächelte Frau von Waldenburg und reichte mir die Kartoffelschüssel.
„O ja, eigentlich gut.. mein Bruder wird heiraten müssen!“ fügte ich hinzu.
„Nun ja, das kommt in den besten Familien vor“, schmunzelte Frau von Waldenburg.
„Das meinen meine Eltern anscheinend auch“, sagte ich. „Sie nehmen ihre Schwiegertochter auf, während mein Bruder sein letztes Semester absolviert. Mutti ist schon feste beim Strampelhöschenstricken! Und Vati beim Zimmereinrichten, es muß alles bis Weihnachten fertig sein.“
„Ach, kommt Ihre Schwägerin zu Weihnachten? Wie nett, dann lernen Sie sie ja kennen.. oder kennen Sie sie schon?“ fragte Frau von Waldenburg.
Ich schluckte. In den letzten Minuten hatte ich gar nicht an mein
unlösbares Weihnachtsferienproblem gedacht.
„Nein, ich kenne sie noch nicht. Es ist ein Mädchen aus Bergen, wo mein Bruder studiert.“
Xenia richtete den Blick auf mich. „Ist deine Mutter denn gar nicht unglücklich über diese. diese Muß-Ehe?“
„Meine Mutter hat die Fähigkeit, die Dinge so zu nehmen, wie sie kommen und immer das Beste aus einer Situation zu machen“, erklärte ich. „Wenn es nun eine Tatsache ist, daß das Kind kommt, dann freut sie sich darauf! Und Vati auch!“
„Hätten sie sich auch auf ein uneheliches Kind gefreut?“ fragte Xenia. „Ich meine - wenn du oder eine deiner Schwestern - und die Betroffene hätte aus irgendeinem Grund nicht heiraten können?“
„Die Situation habe ich mir eigentlich nie vorgestellt“, antwortete ich. „Aber so wie ich meine Eltern kenne. Eins weiß ich jedenfalls, sie hätten ihrer Tochter geholfen, hätten sie nie im Stich gelassen, und das Kind hätten sie aufgenommen. Ob sie sich gefreut hätten -na, das wäre wohl zuviel verlangt.“
„O doch!“ rief Denise. „Eine Freundin von mir bekam ein Kind, und zuerst waren die Eltern verzweifelt, aber als das Kind erst da war, dann - ja dann haben sie es furchtbar liebgehabt und haben es behalten, bis die Tochter eine Anstellung hatte und Geld verdiente und das Kind über Tag im Kindergarten war.“
Frau von Waldenburg lächelte ihr gutes, verständnisvolles Lächeln.
„Ja, das ist nun so was Merkwürdiges an einem kleinen, hilflosen, neugeborenen Kind“, sagte sie. „Wenn eine Großmutter es in den Armen hält, dann - ja dann liebt sie es eben, wenn es auch gar nicht geplant war und lauter Probleme schafft.“
„Meinen Sie?“ sagte Xenia. „Ach, was ich fragen wollte, einer der Klebehaken in unserem Waschraum hat sich gelockert, haben Sie vielleicht etwas Klebstoff?“
Es war deutlich, daß Xenia das Thema „uneheliches Kind“ als beendet betrachtete.
Eins stand fest. Mutti und Vati um Reisegeld zu bitten, käme nicht in Frage.
Wenn sie sich nicht einmal die kurze und gar nicht so teure Reise nach Bergen leisten konnten, zur Trauung ihres Sohnes, dann konnten sie auf keinen Fall die teure Reise von Kiel nach Tjeldsund bezahlen.
Oder sollte ich etwa das Geld verreisen, das meine sechzigjährige
Mutter in der Butterbrotzentrale „zusammengeschauert“ hatte? Nein, tausendmal nein!
Ich dachte nach, bis mein Kopf weh tat. Ich kannte ja niemanden in Kiel, ich hatte keinen Menschen, den ich um Rat oder Hilfe bitten konnte.
Jessica? Reni? Nein, Reni nicht. Sie war die Tochter eines reichen Mannes, sie würde nicht verstehen, daß die lächerlichen zweihundert Mark eine Rolle spielen könnten. Aber Jessica.. ja vielleicht. Oder. Bernhard? Vielleicht hätte er eine Idee, wie ich etwas Geld verdienen konnte.
Mitten in meinen Problemen platzte Denise in mein Zimmer. Sie vergaß immer anzuklopfen, was ich ihr übrigens durchaus nicht übelnahm.
Von zu Hause kannte ich es nicht anders, es würde uns ja im Traum nicht einfallen, bei den anderen anzuklopfen!
„Du, Heidi, ich habe eine Idee! Wollen wir Frau von Waldenburg gemeinsam ein Weihnachtsgeschenk basteln? Eins, das keinen Pfennig kostet?“
„Ja klar, aber wie schaffen wir das?“
„Ach, du hast doch gesehen, daß ihr Eierwärmer kaputt ist. Sonntag hatte sie doch die Frühstückseier in eine Serviette gepackt! Ich wollte ihr einen neuen machen, ich habe so viele kleine Stoffreste und Garnreste - und dann zeichnet Xenia ein paar süße kleine Hühnchen, und du stickst sie!“ Ich mußte lachen.
„Und du denkst, daß ich sticken kann! Das einzige, was ich jemals fertiggebracht habe, sind
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