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Rywig 09 - Ich zähl die Tage im Kalender

Titel: Rywig 09 - Ich zähl die Tage im Kalender Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Berte Bratt
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praktiziert, und dann vergesse ich manchmal.“
    „Bei euch zu Hause, bei euch zu Hause! Euer Zuhause hängt mir bald zum Hals raus! Wenn du so angibst mit deinem vorbildlichen Zuhause, könnte man jedenfalls erwarten, daß du.“
    „Habe ich angegeben ?“ Vor Entsetzen rief ich die Worte laut.
    „Ja, ich nenne es angeben! So daß es einem davon übel werden könnte!“
    Jetzt war ich wütend. Und schon wieder vergaß ich, daß man in einem solchen Fall bis zehn zählen soll, bevor man etwas sagt.
    „Du bist also neidisch, weil du keinen Grund zum Angeben hast!“ antwortete ich. Dann verschwand ich, und ich fürchte, daß ich die Tür nicht gerade leise hinter mir zumachte.
    Es dauerte etwas, bis ich mich beruhigt hatte und nachdenken konnte.
    Xenia war gemein zu mir gewesen, ohne Zweifel. Aber warum? Daß ich zu ihr ohne anzuklopfen reingeplatzt war, na, das war natürlich verkehrt. Aber du liebe Zeit, es war doch eine lächerliche Kleinigkeit! Nein, es muß tiefer stecken. Was hatte ich nun alles von zu Hause erzählt? Daß meine Eltern immer Zeit für uns hatten - daß sie uns in liebevoller Weise so allerlei beigebracht hatten - ja, und dann hatte ich von Olav und Tanja erzählt, von dem nicht geplanten Kindchen, worauf Mutti sich ehrlich freute. Aber das war doch kein „Angeben!“
    Ich wußte nur eins über Xenia: Sie hatte es schwer gehabt. Vielleicht stimmte das, was ich ihr in Wut ins Gesicht geschleudert hatte: Sie war neidisch, weil sie keinen Grund zum Angeben hatte.
    Arme Xenia. Wenn es so war, dann hatte ich sie furchtbar verletzt. Und das, nachdem ich versprochen hatte, lieb zu ihr zu sein!
    Was sollte ich nun machen? Mich entschuldigen, ja, das mußte ich. Aber - wer hatte nun mit den Beleidigungen angefangen? Das war Xenia! Sie mußte das erste Wort sprechen, sie mußte versuchen, sich mit mir zu versöhnen. Wenn sie nun bloß den Mund aufmachen wollte, dann würde ich mich auch entschuldigen.
    Aber Xenia machte den Mund nicht auf.
    Es wurde spät. Ich hatte genug von dem Sticken. Ich wollte was anderes tun, ich wollte Muttis Brief beantworten. Wo hatte ich ihn bloß? Ich suchte auf meinem Schreibtisch, in der Handtasche, in der Collegemappe. Nirgends zu finden. Lieber Himmel, ich hatte ihn doch wohl nicht versehentlich in den Papierkorb geschmissen? In dem Fall. den Papierkorb hatte ich heute in die Mülltonne geleert. also ganz schnell da suchen, morgen früh würden die Müllabfuhrleute kommen.
    Ich schlich nach unten mit der Taschenlampe in der Hand.
    Du liebe Zeit, da hatte Frau von Waldenburg auch den Kücheneimer ausgekippt! Ich mußte mich durch eine Schicht von Kartoffelschalen, Kaffeegrund, Gemüseabfällen und so was durcharbeiten. Da kamen die Papiere, ich fand den Inhalt meines Papierkorbs, aber den Brief nicht. Es war ja auch sehr unwahrscheinlich, daß ich ihn weggeworfen hatte. Nein, er war nicht da. Jetzt tauchten die Abfälle auf, die vor zwei Tagen im Kücheneimer gelegen hatten. Ich wußte es genau, weil ich gesehen hatte, daß Frau von Waldenburg zwei hoffnungslos kaputte Strumpfhosen dazugelegt hatte. Und da waren sie. Sicherheitshalber wollte ich auch daruntergucken. Nanu - was war denn das? Die Strumpfhosen waren abgeschnitten, das Oberteil war weg, nur die Beine mit den Laufmaschen lagen noch da.
    Da plötzlich fiel der Groschen bei mir. Es wurde mir bewußt, worauf mein Blick geruht hatte während des unerfreulichen Gesprächs mit Xenia. Sie hatte einen Bindfaden zwischen zwei Stühle gezogen, als eine Art Wäscheleine. Darauf hing, frisch gewaschen, so was Schlüpferähnliches. und das, was sie blitzschnell hinter dem Rücken versteckt hatte, war auch so was Braunes. es hing eine Nadel runter, eine Nähnadel an einem braunen Faden.
    Xenia hatte die alten Strumpfhosen aus dem Mülleimer geholt, den brauchbaren Teil abgeschnitten und gewaschen, und jetzt machte sie sich Schlüpfer daraus.
    Deswegen war sie wütend gewesen! Ich durfte nicht sehen, daß sie die Kleidungsstücke anderer Menschen aus dem Mülleimer geholt hatte.
    Arme Xenia. Arm im wahrsten Sinne des Wortes.
    Ich empfand keine Spur von Wut mehr. Ich fühlte nur Mitleid, ein grenzenloses Mitleid mit ihr.
    Ich stopfte all die Abfälle wieder fest in die Mülltonne und schlich lautlos nach oben.
    Ich hatte mir vorgenommen, lieb zu Xenia zu sein! Und was hatte ich gemacht? Sie verletzt, gekränkt, sie ertappt bei etwas, das für sie furchtbar demütigend sein mußte.
    In der Nacht schlief ich nicht viel. Ich

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