Rywig 09 - Ich zähl die Tage im Kalender
Kreuzstiche!“
„Merveilleux!“ rief Denise. „Ich habe einen so schönen Stoff für Kreuzsticken, ein Rest von. Na, ist egal, ich habe ihn jedenfalls, warte mal, ich hole ihn gleich.“ Weg war sie.
Ich klopfte bei Xenia. Es dauerte einen Augenblick, bevor sie „Herein“ rief. Als ich das Zimmer betrat, sah ich, daß die Bettdecke eine Beule hatte, als ob etwas da schnell runtergeschoben worden wäre.
Ich erzählte von Denises Idee, und Xenia versprach, ein paar Hühnchen zu zeichnen, die man mit Kreuzstichen sticken könnte. Damit war die Audienz vorbei. Aber am gleichen Abend überreichte sie mir ein entzückendes Stickmuster. „Das ist ja phantastisch, Xenia!“ rief ich.
„Na, dann ist es ja gut“, war die Antwort, und sie verschwand in ihrem Zimmer.
So saß ich am Abend und stickte und dachte, dachte und stickte.
Morgen wollte ich wieder über die Weiße Brücke gehen. Wenn ich Bernhard traf, wollte ich ihn fragen, ob er irgendeinen Job für eine Studentin wüßte - einen Nachmittags- oder Abendjob.
Es wurde nichts mit meinem Fragen. Ich traf allerdings Bernhard und Hasso, letzterer kannte mich jetzt so gut, daß er hochsprang, die Pfoten auf meine Schultern legte und einen Versuch machte, mein Gesicht zu lecken.
Aber Bernhard war anscheinend nicht in der Verfassung, daß er sich die Sorgen einer armen Studentin anhören konnte. Er war aufgekratzt und strahlend und teilte mir mit, daß sein Vater einen neuen Wagen gekauft habe und er, Bernhard, der einzige und teure Sohn, das alte Auto bekommen würde. „Aber Sie haben doch eins“, sagte ich.
„Ach, die olle Kiste, das ist ja nur eine Ente - jetzt kriege ich einen anständigen Opel! Sie müssen eine Probefahrt mit mir machen, Heidi, wenn bloß das Wetter besser wird.“
Ja, heute regnete es, das Wetter war so trübe wie meine Laune. Unter anderen Umständen wäre ich hochbeglückt über die Aussicht auf eine Autofahrt mit Bernhard gewesen. Aber heute. heute, wo ich Probleme und lauter Probleme hatte.
Aber Bernhard sprach über Pferdestärken und Benzinverbrauch, Straßenlage und Spikes, und zuletzt mußte ich mich verabschieden und zum Bus rennen.
„Wenn ich den Wagen kriege, fahre ich Sie zur Uni!“ rief Bernhard.
Ja, das klang ja verheißungsvoll, aber augenblicklich gab es andere Dinge, die ich dringender brauchte als Autofahrten.
Ich mußte mich enorm aufraffen, um bei den Vorlesungen aufmerksam zu sein. Ach, wie war es schwer, die Gedanken zusammenzuhalten!
Nicht, daß ich bis jetzt keine Probleme im Leben gehabt hätte. Aber ich hatte immer jemanden gehabt, den ich um Rat und Hilfe fragen konnte. Diesmal war ich so furchtbar allein. Ich konnte nicht mit Frau von Waldenburg reden, konnte nicht den Eltern darüber schreiben - ich wußte keinen Menschen, der mir helfen könnte.
Ja, das Gefühl des Alleinseins war das allerschlimmste.
Am Abend saß ich und stickte Hühnchen, und mein Herz war schwer wie Blei. Wie war ich allein! Denise war irgendwo mit einem Freund, und Xenia saß vermutlich genauso einsam wie ich in ihrem
Zimmer. Wie wäre es nett gewesen, wenn sie zu mir gekommen wäre, um zu plaudern. Womöglich hätten wir gegenseitig unsere Sorgen auspacken können. Denn daß auch Xenia Sorgen hatte, davon war ich überzeugt. Ich wußte so erschreckend wenig über sie, so unglaublich wenig nach all diesen Wochen. Ich wußte, daß sie elternlos war, und ich verstand, daß sie es sehr schwer im Leben hatte - oder gehabt hatte. Frau von Waldenburg hatte mich gebeten, lieb zu Xenia zu sein. Nichts möchte ich lieber - aber wie kann man zu einem so schweigsamen, ja oft direkt abweisenden Menschen lieb sein!
Es fielen ein paar Tränen auf mein Kreuzstichhuhn. Dann nahm ich mich zusammen, hielt mir selbst eine Moralpredigt und schluckte den großen Klumpen, der in meinem Hals saß, herunter.
Nun hatte ich eins der vier Hühnchen fertig. Ich schnitt den Faden ab, glättete die Arbeit. Es sah wirklich reizend aus. Ach, ich wollte doch schnell Xenia zeigen, wie gut sie gezeichnet hatte und wie lustig die Stickerei aussah! Also nichts wie rein zu ihr.
„Xenia, guck mal, wie.“, ich kam nicht weiter. Xenia schoß hoch vom Stuhl und verbarg etwas hinter ihrem Rücken.
„Du hast wohl nie gelernt, daß man anklopft, bevor man ein Zimmer betritt!“ Ihre Stimme war wütend, und sie war flammend rot im Gesicht.
„Oh, entschuldige, Xenia. ich wollte dir nur zeigen. weißt du, bei uns zu Hause haben wir das Anklopfen nicht
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