Rywig 09 - Ich zähl die Tage im Kalender
uns, ohne daß wir gefragt hatten, etwas erklärten, verboten oder auferlegten.“
„Was, zum Beispiel?“ fragte Xenia.
„Nun ja - gewöhnliche Höflichkeitsformen, zum Beispiel - uns bedanken, wenn wir etwas bekamen, aufzustehen, wenn eine ältere Person das Zimmer betrat - nun ja, eben diese Kleinigkeiten, die man ja früher oder später lernen muß!“
Jessica nickte.
„Die Kleinigkeiten, die einem das Leben so viel leichter machen“, sagte sie. „Kleinigkeiten, die einem dazu verhelfen, beliebt zu werden, Kontakt mit Menschen zu bekommen. Sie haben kluge Eltern, Heidi!“
„Ich habe vor allem sehr liebevolle Eltern!“ nickte ich. Manfred wollte etwas sagen; aber er kam nicht dazu. Denn Jessica wechselte plötzlich das Gesprächsthema. Sie saß neben Xenia, nun wandte sie sich lächelnd zu ihr: „Xenia, deine Pudelkarten sind ja klasse! Nun sag bloß, wo du zeichnen gelernt hast!“
„Nun, in der Schule.“
„Ja, vielen Dank, das habe ich auch, und ich zeichne ungefähr so gut wie Renis Gretchen! Du mußt ein phantastisches, angeborenes Talent haben!“
„Ach, das bißchen Kritzeln.“
„Von wegen Kritzeln! Weißt du, du müßtest eigentlich diese Fähigkeit geldeinbringend nutzen - Weihnachtskarten zeichnen, zum Beispiel - und Tischkarten und Glückwunschkarten und so was.“ „Daran habe ich nie gedacht.“
„Dann fang jetzt an zu denken!“
„Vorläufig denke ich nur daran, mein Examen zu machen, das ist das wichtigste!“
Es lag irgendwie etwas Abschließendes in Xenias Tonfall, als ob sie nicht mehr über ihre Zeichenkünste sprechen wollte.
„Tante Christiane!“ rief Reni quer durch das Zimmer. „Wie geht
es Tante Isa? Hast du neulich von ihr gehört?“
„O ja, vor zwei Tagen. Ich soll euch alle herzlichst grüßen. Es scheint ihr wunderbar zu gehen, sie ist verliebt wie ein Teenager. Na, ich werde bald mehr erzählen können, das liebe Mädchen hat mich zu Weihnachten eingeladen!“
„Das ist ja prima! Mit Köter?“
„Klar! Du denkst wohl, daß ich Bicky in einen Zwinger gebe? Wir beide fahren los, sobald.“
„.du deine lästigen Pensionäre los bist!“ unterbrach Reni.
„Ich wollte sagen, sobald meine drei lieben Mädchen nach Hause gefahren sind“, lächelte Frau von Waldenburg. „Also spätestens am 23. Dezember. Isa behauptet, daß sie kochen gelernt hat, und ich soll zehn Tage Küchenurlaub haben.“
„Denkste!“ schmunzelte Falko. „Wir kennen dich, Tante Christiane, du läßt dich bestimmt nicht von der Küche fernhalten!“ „Kinder!“ rief Reni. „Wißt ihr, wie spät es ist? Wir müssen nach Hause zu Mutter und Tochter und Kater, außerdem haben wir ja die liebe Pflicht, Jessica und Falko nach Hause zu bringen!“
Es wurde aufgebrochen und mit viel Hallo und vielen scherzhaften Worten Abschied genommen.
Ich mußte mich gewaltig zusammennehmen, damit die anderen nicht verstanden, daß ich direkt einen Schock bekommen hatte.
Frau von Waldenburg betrachtete es als eine Selbstverständlichkeit, daß wir zu Weihnachten nach Hause fuhren.
Und meine Eltern, meine ganze Familie und ich selbst betrachteten es als eine genauso große Selbstverständlichkeit, daß ich Weihnachten hier verbringen würde!
Das viele Geld für eine Extrareise nach Norwegen, mitten im Semester - das war gar nicht drin!
Was in aller Welt sollte ich tun?
Ich mußte vor allem den Eltern schreiben, und zwar gleich morgen!
Die Gäste verschwanden in Renis Wagen, Türen knallten, es wurde gewinkt, und Reni gab Gas.
„Mensch, war das ein gemütlicher Abend!“ rief Denise. „Und ich bin so satt, daß ich vierzehn Tage nichts essen kann!“
„Darüber werden wir morgen am Frühstückstisch sprechen“, sagte Frau von Waldenburg mit einem verschmitzten Lächeln. „Aber nun husch, husch ins Körbchen, alle drei, es ist furchtbar spät geworden, und ihr müßt morgen arbeiten.“
„Wir wollen Ihnen noch schnell mit dem Aufräumen helfen!“ sagte ich.
„Ich will euch nicht sehen! Ich werde euch etwas anvertrauen: Immer wenn die Gäste weg sind, setze ich mich in meinen Sessel, trinke eine einsame Tasse Kaffee und freue mich in aller Stille über den schönen Abend! Mein Mann und meine Kinder haben immer diese seltsame Angewohnheit respektiert, später auch Isa. Die Kinder nannten es immer ,Muttis Abendandacht’!“
„Ja, wenn es so ist“, meinte ich. „Dann werden wir es auch respektieren! Nicht wahr?“
Die beiden anderen nickten.
„Dann also tausend Dank
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