Rywig 09 - Ich zähl die Tage im Kalender
für diesen entzückenden Abend“, sagte ich und reichte Frau von Waldenburg die Hand. „Wir haben es so phantastisch gut bei Ihnen - noch viel besser als Ihre Donnerstagsstudentinnen. Denn für uns ist ja jeder Tag Donnerstag!“ „Genau!“ rief Denise. Dann schlug sie plötzlich die Arme um Frau von Waldenburgs Hals, und es rutschten ihr ein paar begeisterte französische Sätze heraus. Die Begeisterung hörte ich aus dem Tonfall, die Worte konnte ich beim besten Willen nicht verstehen.
„Gute Nacht, Frau von Waldenburg“, sagte Xenia leise. „Ich finde, daß Heidi recht hat. Für uns ist jeder Tag Donnerstag!“
Ein Unglück kommt selten allein
Ich konnte nicht schlafen.
Was in aller Welt sollte ich tun? Ja, wenn ich nach Hause schriebe, dann würde schon meine große Familie einen Ausweg finden. Vielleicht würden Beate und ihr Mann einspringen und mir das Geld für die Weihnachtsreise schenken. Aber der Gedanke gefiel mir gar nicht. Sie hatten mir schon so viel geschenkt, und Onkel Doktor hatte große Verpflichtungen und viele Ausgaben. Und meine Eltern? Vati hatte sechs Kindern zu einer Ausbildung verholfen, Nummer sieben - mein Bruder Olav - war noch nicht fertig mit seinem Studium, und ich, die Jüngste, hatte erst recht den Eltern Probleme verschafft, dadurch, daß ich im Ausland studierte - in einem Land mit einer so teuren Währung!
Überhaupt, jemanden um Geld zu bitten! Der Gedanke war mir, gelinde gesagt, unsympathisch!
Aber - wenn ich nun selbst etwas Geld verdienen könnte! Gleich morgen wollte ich die Anschlagtafel an der Uni studieren. Und die Zeitungsinserate!
Der Gedanke beruhigte mich etwas. Vielleicht würde sich doch ein Ausweg finden.
Dann schlief ich endlich ein. Und wachte viel zu spät auf. Zu spät, um meine Morgenwanderung über die Weiße Brücke zu machen, geschweige denn, mein tägliches Brückenfegen zu besorgen! Ich rannte zum Bus „mit der Zunge auf dem dritten Mantelknopf“, wie meine Brüder sagen.
Auf der Anschlagtafel fand ich außer „Babysitter gesucht“ nichts, was für mich in Frage kommen konnte. Also ging ich zu der Babysitter suchenden Dame und kam zu spät. Das Baby war mir von einer anderen Studentin weggeschnappt.
Als ich nach Hause kam, lag Post für mich auf der Konsole im Flur. Für Denise auch. Wir beide bekamen regelmäßig Briefe von zu Hause.
Für Xenia lag nie etwas auf der Konsole.
Ich rannte nach oben, hatte wohl gerade Zeit, den Brief zu lesen, bevor wir zu Tisch gerufen wurden.
„Mein liebes Heidilein!
Innigen Dank für Deinen Brief. Du kannst Dir denken, wie wir
uns darüber freuen, daß es Dir so gut geht, daß Du im Deutschen Fortschritte machst, fleißig lernst, in den Vorlesungen gut mitkommst - und daß Du ein so reizendes Zuhause hast! Frau von Waldenburg muß ein ganz außergewöhnlicher Mensch sein. Wenn ich bloß wüßte, wie wir uns bei ihr jemals bedanken könnten! Vorläufig mußt Du sie sehr, sehr herzlich grüßen.
Aber augenblicklich haben wir andere Gedanken im Kopf. Ja, hier ist etwas geschehen, was uns etliche Probleme verschafft.
Olav wird heiraten - müssen! Natürlich war das nicht geplant, es ist ein sogenannter „Unfall“, obwohl ich es nie als einen Unfall betrachten kann, daß ein Kind auf die Welt kommt. Ganz besonders, wenn es sich um unser Enkelkind handelt!
Nun ist es aber so, daß seine kleine Tanja ganz allein auf der Welt ist. Ihre Eltern sind tot, sie hat keine Geschwister, nur zwei ältere Tanten die dasitzen und jammern, weil ihre Nichte so einen Skandal über die Familie bringt. Blödsinn! Skandal hin, Skandal her, Olav liebt sie und sie liebt ihn, und ihr Kind soll willkommen sein. Mit anderen Worten: Bis Olav sein Examen gemacht hat, wird Tanja bei uns bleiben, soll sich geborgen fühlen, sie soll sich auf ihr Kind freuen dürfen! Herrgott, wenn ich daran denke, wie glücklich ich war, als ich Beate erwartete, und was für ein Glück es jedesmal war, wenn ich ein gesundes, neugeborenes Kind in den Armen hatte! Dann sollte meine kleine Schwiegertochter allein und ratlos dastehen? Nicht solange wir ein Haus haben!
In einem halben Jahr ist Olav ja mit der Ausbildung fertig und kann dann sofort hier in Tjeldsund eine Stellung antreten. Dann verdient er genug, um Frau und Kind zu versorgen, und sie werden die erste Zeit mietfrei bei uns wohnen. Also sieht es gar nicht so schlimm aus. Nur das erste halbe Jahr wird für uns finanziell anstrengend, aber wir werden es schon schaffen! Tanja wird
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