Rywig 10 - Machst Du mit Senta
und fühlte sich mehr verlassen als jemals zuvor. Ganz allein in einem fremden Land, keinen Menschen mit dem sie sprechen konnte, niemand, der ihre Muttersprache verstand, ohne einen Cent in der Tasche, ohne eine Bleibe und mit einem Mordshunger!
Dann setzte sie sich auf eine Treppe und wußte weder aus noch ein. Sie saß nur da und war klein und unglücklich und unbeschreiblich allein!
„Das Heulen liegt mir eigentlich nicht“, gestand sie. „Aber gestern war ich nahe dran. Ich durfte es bloß nicht tun, weil ich kein Taschentuch hatte. Das lag nämlich auch in meiner Tasche im Bus.“
Und dann, als ihre Verzweiflung sozusagen den Höhepunkt erreicht hatte, hielt ein kanadischer Personenwagen, und - sie mußte sich selbst in den Arm zwicken - aus dem Wagen stieg Herr Weiden.
Ich lachte. „Na, ich kann mir schon Ihre Erleichterung vorstellen. In dem Augenblick hätten Sie wohl Herrn Weiden umarmen können.“
„Was heißt hier hätte? Ich fiel ihm um den Hals und dann heulte ich wirklich - und er hatte Gott sei Dank ein Taschentuch!“
Der Rest war schnell erzählt. Zuerst ging es ans Telefon, dann zum Essen, und dann erst kam die Frage: „Wo bleiben wir heute nacht?“
Es war kein Zimmer frei. Es war ja mitten in der Ferienzeit, da waren sogar in vielen Zimmern extra Notlager aufgestellt worden. Jochen hatte es auch in ein paar Hotels in der Stadt versucht - überall war es voll. Dann zeigte sich der Autobesitzer, der Herrn Weiden mitgenommen hatte, als rettender Engel. Er ließ seinen Wagen offen, so daß die beiden Obdachlosen sich jedenfalls da reinsetzen konnten. Er borgte ihnen einen Mantel und eine Decke, und so war ihnen einigermaßen geholfen.
Sie hatten stundenlang dagesessen und geplaudert. „Man lernt sich eigentlich ganz gut kennen, wenn man so eine ganze Nacht dasitzt und miteinander spricht“, sagte Isabel leise. „Jochen Weiden ist ein feiner Kerl.“
„Das ist er!“ pflichtete ich ihr bei.
Als es anfing, hell zu werden, machten sie einen Spaziergang. „Und das war schön!“ erzählte Isabel. „Bei Sonnenaufgang durch den Wald zu gehen. Wir haben zwei herrliche Elche gesehen, und Jochen kannte einen Bach, wo man Biber sieht. Wir hatten Glück -wir entdeckten eine Bibermutter mit zwei kleinen Jungen, und der Biberpapa war dabei, Zweige zu holen und den Damm auszubauen! Nein, daß es so was gibt! Nachher, auf dem Rückweg, huschte uns ein Fuchs über den Pfad! Oh, diese Morgen Wanderung war die ganze Reise wert!“
Nach dem Frühstück fuhren ein paar Gäste ab, zwei Zimmer wurden frei, der Autoschlüssel wurde mit herzlichem Dank zurückgegeben, und Isabel war ins Bett gekrochen und hatte bis zur Lunchzeit geschlafen. Wahrscheinlich hatte Herr Weiden dasselbe getan!
Isabel lächelte vor sich hin. „Er ist wirklich ein ganz schrecklich netter Kerl“, wiederholte sie.
Hundertprozentig!
„Kinder, ist euch klar, daß solch ein Tag wie dieser ein Gottesgeschenk ist?“ fragte Sonja, als wir uns am Frühstückstisch trafen. „Weil du deinen lästigen Ehemann los bist?“ fragte ich.
„Schäme dich! Laß es dir ein für allemal gesagt sein, mein Ehemann ist ein Unikum und viel zu gut für diese Welt. Das habe ich ihm auch heute früh um sechs gesagt, bevor er losfuhr. Nein, der Tag ist ein Gottesgeschenk, weil im Reiseprogramm steht: ,Dieser Tag steht zur freien Verfügung’. Also, nicht nach der Uhr leben, nicht in Windeseile den Koffer packen, auch nicht ruhelos durch die Gegend wandern, weil wir die Zimmer morgens abgeben müssen und erst abends weiterfahren werden. Ich kenne Gruppenreisen, und ich verstehe es, einen solchen Tag zu genießen!“
„Dann genieße“, sagte ich. „Es ist dein freier Tag, ich habe Dienst, du kannst dich in einem Liegestuhl räkeln und Kartengrüße schreiben und an deinen weggeflogenen Ehemann denken. Übrigens, wo ist heute unser ,Baby’?“
„Da kommt er“, sagte Rolf, der mir gegenübersaß und die Tür sehen konnte. „Zusammen mit Isabel und Frau Lander.“
Isabel sah frischer aus, als ich sie die ganze Zeit vorher gesehen hatte. Sie fanden einen freien Tisch, und Herr Weiden kam einen Augenblick zu uns herüber.
„Können Sie mich jetzt beim Frühstück entbehren, oder haben Sie etwas mit mir zu besprechen?“
„Klar können wir Sie entbehren. Gehen Sie ruhig zu Ihrem privaten Schützling, und bestellen Sie bloß nicht Eier und Speck. Der Speck ist so salzig, daß Sie nachher den ganzen Biberbach leertrinken würden“, riet
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