S - Spur Der Angst
Zimmergenossin war längst jenseits von Gut und Böse; den Kopf unter dem Kissen vergraben, den Hals mit dem seltsam aussehenden Drachentattoo entblößt, schnarchte sie leise.
Vor einiger Zeit hatte Shay gehört, wie der Strom ausfiel, dem Rumpeln des Heizkessels war Totenstille gefolgt. Im Zimmer war es stockfinster geworden, denn unter dem Türspalt drang nicht mehr der gedämpfte Schein der Nachtbeleuchtung hervor, und durch die Vorhänge fiel kein Licht von draußen, da auch die Außenbeleuchtung und die Weglaternen vor dem Wohnheim erloschen waren. Shay hatte ihre Taschenlampe angeknipst, damit es nicht ganz so dunkel war, damit sie sich nicht ganz so allein fühlte.
Als der Generator eine halbe Stunde später angesprungen war, war sie zum Fenster getappt und hatte hinausgespäht. Zwei Leute eilten mit großen Schritten über den Campus: Jules und Cooper Trent. Trent hatte Jules’ Ellbogen gefasst. Seltsam, sollten um diese Uhrzeit nicht eigentlich nur die Sicherheitspatrouillen unterwegs sein?
Was hatte das zu bedeuten?
Auf keinen Fall etwas Gutes, da war sie sich sicher.
Und warum hatte Jules ihr nicht anvertraut, dass sie Trent kannte, dass er der Rodeoreiter war, den sie hatte heiraten wollen? Sicher, Jules hatte nie von einer Hochzeit mit dem Cowboy gesprochen, aber Shay hatte gespürt, dass sie sich das wünschte. Sie durchschaute ihre ältere Schwester besser als diese sich selbst.
Warum bloß hatte Jules plötzlich Geheimnisse vor ihr?
Eine ungute Vorahnung hatte sie beschlichen, als sie sah, wie sich Trent in der Nähe der Kirche vorgebeugt und einen Kuss auf die Wange ihrer Schwester gehaucht hatte.
Liebevoll.
In ihrer Magengrube bildete sich ein Stein, als sie sich fragte, ob Jules bei ihrer Bewerbung schon gewusst hatte, dass Cooper Trent hier angestellt war. Vielleicht war ihre große Schwester gar nicht nach Blue Rock gekommen, um ihr zu helfen, sondern weil sie ihren Ex-Freund zurückerobern wollte. Vielleicht hatte Shays Flehen um Hilfe nur als Vorwand gedient.
Aber das war doch verrückt.
Jules liebte ihre jüngere Schwester, hatte sie seit eh und je beschützt.
Bis jetzt.
Shay hatte sich gerade vom Fenster abwenden wollen, als sie eine weitere Gestalt auf dem verschneiten Campus erblickte. Groß. Allein.
Was hatte das zu bedeuten?, wunderte sie sich. Hatte der Einzelgänger Jules verfolgt? Nein, das machte keinen Sinn. Er blieb stehen, als erwäge er seinen nächsten Schritt, dann machte er kehrt. Für den Bruchteil einer Sekunde fiel der bleiche Mondschein auf sein Gesicht.
Vater Jake?
Beinahe hätte Shays Herz für einen Schlag ausgesetzt.
Warum um alles in der Welt war er mitten in der Nacht da draußen?
Bestimmt nicht, um an seiner Predigt für nächste Woche zu arbeiten.
Shay war vom Fenster zurückgetreten, wobei ihr Blick auf ihren Rucksack in einer Ecke des Zimmers fiel. Sie hatte Jules nicht angerufen, weil der Akku von Nonas Handy fast leer war und Shay nicht wusste, wo sich das Ladegerät befand.
Also hatte sie sich auf dem Bett ausgestreckt und überlegte nun, wie sie weiter vorgehen wollte, wie sie diesem vermaledeiten Gefängnis entrinnen konnte.
Letztendlich beschloss sie, dass sie ihre Schwester auf die altmodische Art und Weise zur Rede stellen würde: von Angesicht zu Angesicht.
Angst vor einem Mörder auf dem Campus hatte sie nicht, sie konnte gut auf sich aufpassen.
Schnell schlüpfte sie im Dunkeln in ihre warmen Sachen und zog Schneehose und Stiefel über ihre Jeans. Die Handschuhe steckten in ihrer Jackentasche.
Lautlos verließ sie das Zimmer und huschte den Flur hinunter. Es war ihr egal, ob sie irgendeinen Alarm auslöste, und der lächerliche Sicherheitsdienst bereitete ihr auch kein Kopfzerbrechen, bislang hatte sie noch niemand bei ihren Verstößen gegen die Ausgangssperre erwischt. Sie wusste, dass in den Räumen keine Kameras installiert waren, und was die Gänge anbelangte – nun, das Risiko würde sie eingehen.
Eilig stieg sie die Treppe zum Keller hinunter.
Was für ein Witz: Angeblich war jedes Gebäude auf seine Sicherheit hin überprüft worden, aber das präparierte Fenster war unentdeckt geblieben. Alles hier war ein Witz.
Sie öffnete den Fensterriegel mit dem Schraubenzieher, den sie in einem alten Bücherregal versteckt hatte, drückte die Scheibe auf und zog sich hinaus ins Freie – ein Kinderspiel. Als sie draußen in der Kälte stand, atmete sie auf, hatte endlich wieder das Gefühl, am Leben zu sein. Der Halbmond
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