S - Spur Der Angst
gemeinsamen einjährigen Tochter.
Überraschenderweise vermisste sie ihn nicht. Wenn sie ehrlich war, fehlte ihr die Freundschaft mit Peri weit mehr. Und was das Haus anbelangte – es war immer mehr seins gewesen, viel Glas, Holz, hohe Decken und Flachbildschirme. Von seinem Geld gekauft, nach seinem Geschmack eingerichtet. Nein, sie vermisste Sebastian Farentino wahrhaftig nicht, und auch die Enttäuschung ihrer Mutter darüber, dass sie sich einen so guten Fang »durch die Lappen« hatte gehen lassen, machte ihr nicht wirklich zu schaffen. Doch dass Peri, mit der sie seit der sechsten Klasse befreundet gewesen war, sie derart verraten hatte, brachte sie fast um.
Das war das Messer in ihrem Rücken gewesen.
Peri hatte von Jules und Cooper Trent gewusst, und dieses fatale Wissen hatte ihr eine Art Freifahrtschein verschafft, was sie schamlos ausnutzte.
Gedankenverloren trug Jules ihre Teetasse hinauf ins Arbeitszimmer. Wäre es nicht Peri gewesen, hätte eine andere Frau Sebastian zum Seitensprung verführt. Er war ein Spieler und würde so lange ein Spieler bleiben, bis er unter der Erde lag. Ohne ihn war sie besser dran.
Du hast ihn nie wirklich geliebt, gib’s zu, Jules.
Doch so weit wollte sie jetzt nicht denken. Sie hatte geglaubt, ihn zu lieben, als sie ihn heiratete, hatte es ernst mit der Ehe gemeint.
Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und nippte an ihrem Tee. »Was hat das jetzt noch zu bedeuten?«, fragte sie laut. »Das ist doch alles Schnee von gestern.«
Erneut klickte sie die Website der Blue Rock Academy an und betrachtete die Bilder vom Campus: gefährdete Jugendliche, die sich beim Gitarrespielen, Kanufahren, Reiten, Rudern und Angeln amüsierten. Sie scrollte weiter runter zu den Fotos von apfelwangigen Schülern, Gebäuden im Landhausstil, einem in der Sonne funkelnden Bergsee und schneebedeckten Gipfeln vor einem wolkenlosen blauen Himmel.
Was für ein Unsinn.
Als sie sich durchs Menü klickte, stieß sie auf ein Feld mit Stellenangeboten. Die Schule suchte nach einer Küchenhilfe, einem Hausmeister – und einer Lehrkraft.
Sie war Lehrerin mit einem Lehrerdiplom aus Oregon, und sie war arbeitslos. Wenngleich sie es für ziemlich verrückt hielt, dass sie sich ausgerechnet für einen Job an dieser Schule bewerben würde, druckte sie den dafür erforderlichen Vordruck aus. Warum nicht?
Das Letzte, was Shay jetzt braucht, ist, dass du die Dinge noch komplizierter machst. Sie ist aus einem bestimmten Grund auf richterliche Anweisung dort, und sie hat dir klipp und klar zu verstehen gegeben, dass sie dich nicht in ihrer Nähe haben möchte.
Jules überflog die Fragen. Hatte sie noch einen aktuellen Lebenslauf zur Hand? Sie trommelte mit den Fingern auf die Schreibtischplatte. Die Schule würde sie kaum einstellen, wenn sie angäbe, mit einer der Schülerinnen verwandt zu sein.
Also würde sie lügen müssen, und das nicht nur einmal.
Sie würde ihre letzte Adresse in Oregon angeben, was nicht weiter auffiele, da sie sich bislang nicht die Mühe gemacht hatte, ihren Führerschein auf Washington umzumelden. Gut. Shays Wohnsitz war in Seattle.
Sie würde auch Edie belügen müssen, aber das wäre nicht allzu schwer; auch Jules hatte eine rebellische Teenagerphase hinter sich.
Doch was wollte sie ausrichten, wenn sie den Job tatsächlich bekam?
Du wirst dich mit eigenen Augen vergewissern können, dass das Institut kein fauler Apfel ist und die Referenzen der Wahrheit entsprechen. Wenn nicht, wirst du eine Möglichkeit finden, Shay dort rauszuholen. Außerdem solltest du pragmatisch denken: Es ist ein ehrlicher Job an einer Privatschule. Selbst wenn du nicht länger als ein Jahr dort bleibst, wird sich das gut in deinem Lebenslauf machen.
Vorausgesetzt, ihre Lügen flögen nicht auf.
Und wie sollte sie ihre Schwester gegebenenfalls von dort fortbringen?
Sollte sie sie entführen?
»Das ist doch Schwachsinn«, murmelte Jules, nahm die ausgedruckten Seiten und warf sie eine nach der anderen in den Mülleimer.
»Was meintest du mit dem Mikrofon und der Kamera?«, fragte Shay ihre Zimmergenossin am nächsten Tag nach dem Unterricht. Sie hatte sich bereits durch das Morgengebet, vier Schulstunden sowie ein grauenhaftes Gruppentreffen nach dem Mittagessen gequält und sollte jetzt zusammen mit den übrigen Losern ihres Trupps ihren »häuslichen Pflichten« nachkommen. Heute stand das Ausmisten des Pferdestalls auf dem Programm, morgen würden sie Kanus anstreichen, übermorgen
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