S - Spur Der Angst
Stallarbeiten erledigen und sich um Sättel und Zaumzeug kümmern. Hier in Blue Rock hörte der Spaß niemals auf.
»In den Sprinklerköpfen«, flüsterte Nona, während sie dem Rest der Gruppe folgten, die mit großen Schritten in Richtung der Stallungen eilte. Niemand konnte sie hören, nicht einmal die kriecherische Kaci Donahue, eine langbeinige, dunkelhaarige CB, die überall zu sein schien, genau wie ihr On-and-off-Freund Drew Prescott, ein fies dreinblickender Kerl. Den beißenden Kommentaren nach zu urteilen, die er über alles und jeden abgab, hatte er einen ganz schönen Minderwertigkeitskomplex.
»Und wer beobachtet uns?«, fragte Shay.
Nona zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Lynch? Burdette? Irgendein Perversling?« Sie warf Shaylee einen wissenden Blick zu.
»Jemand Spezielles?«, hakte Shay nach.
Nona zögerte. »Da kämen mehr als einer in Frage.«
»Wer?«
»Ich, ähm, ich weiß es nicht«, stieß Nona rasch hervor, als wünschte sie sich, sie hätte den Mund gehalten. Doch Shaylee würde sie nicht so leicht davonkommen lassen.
»Tust du doch.«
Nona schwieg, während zehn Paar Stiefel im Schnee knirschten und eine Gänseschar in einer schlingernden V-Formation durch die stahlgrauen Wolken nordwärts zog.
»Also spioniert man uns ständig hinterher?«, versuchte Shaylee es noch einmal.
»Nein. Nicht immer.« Nona hatte die Stimme gesenkt und war kaum über das Rauschen des Windes hinweg zu verstehen. »Es gibt ein paar Orte, an denen man unbeobachtet ist.«
»Und du kennst diese Orte?«, vermutete Shay.
»Aber sicher!« Ihre Zimmergenossin nickte, offenbar stolz. »Trotzdem muss man vorsichtig sein«, flüsterte sie. Ihre Lippen zuckten. »Es ist zum Beispiel ziemlich schwer, in Blue Rock mit einem Jungen zusammen zu sein.«
»Du hast einen Freund? Hier?« Shay war sprachlos. Sie hatte Nona bislang mit keinem der Schüler gesehen, auf ihrem Schreibtisch stand kein Foto von einem Jungen, und auch sonst deutete nichts darauf hin. Bisher hatte ihre Zimmergenossin lediglich diesen Freund zu Hause erwähnt, der kein guter Umgang für sie zu sein schien. Obwohl es nicht erlaubt war, hatte Shaylee bemerkt, dass manche der Kids hier miteinander flirteten. Aber Nona?
»Wer ist es denn?«, flüsterte sie.
Nona grinste wie eine Katze, die soeben einen Kanarienvogel verspeist hatte, und Shay ging im Geiste eine Liste mit potenziellen Kandidaten durch. Ethan Slade? Er war total süß. Oder Eric Rolfe, der Junge mit dem Militärhaarschnitt und den stechenden blauen Augen? Vielleicht Tim Takasumi oder Roberto Ortega, einer der beiden Typen von der Krankenstation, deren Namen sie während der langwierigen Begrüßungszeremonie erfahren hatte.
»Raus mit der Sprache«, drängte sie, »wer ist es?«
»Rate.«
»Das hat doch keinen Sinn! Ich kenne doch noch gar nicht alle.«
Nona kicherte, dann blickte sie auf und wurde ernst. »Schscht! Nicht jetzt!«
Einer der Schüler aus ihrer Gruppe, ein großer blonder Junge namens Zach, blickte über die Schulter, und Nona hetzte wie ein verängstigtes Reh zu ihren Freundinnen Maeve und Nell, die Shay bislang lediglich eisige Blicke zugeworfen hatten.
Shay bildete die Nachhut. Das hätte sie sich denken können. Nicht, dass es ihr etwas ausmachte. Sie sah ihre Zimmergenossin davoneilen, als wäre sie froh, von ihr fortzukommen. Log Nona, was ihren Freund betraf? War er bloß ein Hirngespinst? Eine Wunschvorstellung wie bei kleinen Kindern, die sich einen Fantasiefreund ausmalten? Oder war es Zach?
Doch es wäre Zeitverschwendung, darüber zu spekulieren.
Wen kümmerte es schon?
Plötzlich erregte etwas Shays Aufmerksamkeit. Als Nona weiterrannte, glitt ihr etwas aus der Tasche – etwas Dunkles, Schmales wie ein Handy, ein iPod oder eine Kamera. Alle drei Dinge waren hier strikt verboten. Nona blieb abrupt stehen, bückte sich und hob den Gegenstand auf, dann versenkte sie ihn tief in ihrer Tasche und schaute zu Shay zurück.
Ihre Blicke begegneten sich, Nonas Augen flehten Shay an, den Mund zu halten.
Shay würde ihre Zimmergenossin nicht verraten, aber sie wollte unbedingt wissen, was Nona in ihrer Tasche verbarg und wie sie es hier reingeschmuggelt hatte.
Nona schloss zu ihren Freundinnen auf und fing an, mit Maeve Mancuso und Nell Cousineau herumzualbern. Maeve, eine Rotblonde aus Rhode Island, wirkte leicht psychotisch, soweit Shay das beurteilen konnte, und war zutiefst romantisch veranlagt. Sie hatte gehört, Maeve neige zu selbstverletzenden
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