S - Spur Der Angst
führt euch alle auf, als hätte ich ein Kapitalverbrechen begangen! Dabei musste ich lediglich pinkeln!«
Der ohnehin misstrauische Blick des Psychologielehrers wurde noch misstrauischer. »Hab ein Auge auf sie«, bat er Ethan, dann durchquerte er den Gemeinschaftsraum in Richtung der Anrichte mit den Thermoskannen voll Tee und heißem Kakao.
Shay war sich nicht sicher, was hier ablief, aber eins war ihr klar: Maeve war stinksauer. Stand sie etwa auf Ethan?
Missy beugte sich zu ihm vor. »Wenn du nicht auf sie aufpassen kannst, tue ich es.«
»He! Ich brauche keinen Aufpasser!« Noch mehr Aufmerksamkeit konnte sie wirklich nicht gebrauchen. »Ich habe einen Fehler gemacht. Es. Tut. Mir. Leid. Nun lasst uns mal keine Staatsaffäre daraus machen.«
»Ich hab’s ja kapiert!«, sagte Ethan zu Missy, und diese feixte, als könne sie es gar nicht erwarten, Ethan weiter in die Schranken zu weisen. Schlagartig begriff Shay, dass die beiden ein Paar gewesen sein mussten, aber offensichtlich war etwas schiefgelaufen. Vielleicht traf auch hier der Congrevesche Ausspruch zu: »Die Hölle selbst kann nicht wüten wie eine verschmähte Frau.« Missy jedenfalls genoss es, Ethan seinen Fehler unter die Nase zu reiben.
Ein paar Köpfe drehten sich zu ihnen um. Die Leute aus Nonas Gruppe spitzten plötzlich die Ohren, und Keesha Bell, die einzige Afroamerikanerin in Shays Trupp, wandte ihre Aufmerksamkeit von Benedict Davenne ab. Keesha hatte große braune Augen, denen kaum etwas entging, und so perfekt entlang der Kopfhaut geflochtene Zöpfe, dass Shay meinte, die Luftaufnahme eines Vorortstraßennetzes vor sich zu sehen. Keesha und BD waren offensichtlich verknallt, und obwohl romantische Beziehungen auf dem Campus strikt untersagt waren, wurde dieses Gesetz ständig gebrochen. Doch jetzt rissen sie sich voneinander los und blickten zu Ethan, Missy und Shay hinüber.
»Gibt es ein Problem?«, fragte Shays Gruppenleiter, Cooper Trent, löste sich von den Jungs, mit denen er sich unterhalten hatte, und kam mit großen Schritten auf sie zu.
»Ja.« Shay hielt abwehrend die Hände hoch. »Ich fürchte, ich habe gegen die Regeln verstoßen.«
»Wir haben sie im Verwaltungsgebäude erwischt«, sagte Missy selbstgefällig.
»Ich habe nach einer Toilette gesucht, und weil ich hier keine gefunden habe, bin ich nach nebenan gegangen, wo ich mich besser auskenne. Daraus hat sich dann der große Kloklamauk entwickelt.«
Missy schnappte nach Luft.
Ein paar Kids kicherten.
Überrascht stellte Shay fest, dass auch Nell grinste.
Dr. Burdette ging kopfschüttelnd vorbei, krause rote Strähnen hingen aus ihrem Pferdeschwanz, aber sie blieb nicht stehen, um zu schimpfen.
»Es ist meine Schuld«, fuhr Shay fort. »Ich weiß nicht, welche Strafe auf die Benutzung der falschen Toilette steht, aber ich bin schuldig im Sinne der Anklage.«
Keesha kicherte, dann schlug sie eine Hand vor den Mund, um nicht laut hinauszuprusten.
»Nun beruhigt euch mal wieder«, sagte Wade, der sich, eine dampfende Tasse in der Hand, zu ihnen gesellte.
»Er hat recht«, bestätigte Trent, und an Shay gewandt, fügte er hinzu: »Nun setz dich mal wieder an deine Bücher. Jetzt weißt du ja, wo die Toiletten sind.«
Shay nickte. So, damit hatte sie den Kerl wohl am Hals. Oder mischte er sich nur ein, weil er ihr Gruppenleiter war? Nun, wenn er nicht auf ihrer Seite stand, dann ganz bestimmt Vater Jake. Oder machte sie sich etwas vor? Mein Gott, diese Schule war wirklich durchgeknallt!
»Gut.« Trent warf Ethan einen tadelnden Blick zu, dann sah er wieder Shay an und fuhr fort: »Wenn du Fragen hast, wende dich an mich oder an Ethan … es sei denn, du möchtest lieber eine weibliche CB.«
Wie Missy Albright? Gott bewahre! »Ethan ist schon okay.«
Keesha unterdrückte ein Grinsen, und Lucy Yang hatte tatsächlich den Nerv, die Daumen hochzurecken.
»Gut«, sagte Trent noch einmal und begegnete Taggerts unglücklichem Blick. »Alles bereinigt, o.k.?«
Taggert sah aus, als wolle er Einspruch erheben, doch in dem Augenblick öffnete sich die Tür des Haupteingangs, und herein schneite, zusammen mit einem Schwall kalter Luft, Reverend Tobias Lynch. In seinem langen schwarzen Mantel betrat er den Gemeinschaftsraum und ging direkt an seinen Lieblingsplatz vor dem gewaltigen Kamin. Dort streckte er die Arme aus wie ein Adler seine Flügel – woraufhin alle zusammenrückten.
»Es tut mir leid, dass ich so spät dran bin.« Er warf einen Blick auf die Uhr.
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