S - Spur Der Angst
»Es ist schon fast Zeit, zu Bett zu gehen. Daher lasst uns schnell die Stimmen zum Lobgesang erheben und mit einem kurzen Gebet enden.« Er deutete auf das Klavier in der Ecke und hielt Ausschau nach der Englischlehrerin.
»Studienrätin Hammersley«, wandte er sich an die Frau mit dem Körper einer Marathonläuferin, »würden Sie uns die Freude machen, uns zu begleiten?«
Shaylee zwängte sich in eine Lücke zwischen Banjo und Lucy. Der gerügte Ethan blieb einen Schritt hinter ihr und stand damit neben Zach Bernsen, dem CB, den Shay wegen seiner nordischen Züge insgeheim den »Wikingergott« getauft hatte.
Ein paar Schritte weiter grinste Drew Prescott, als würde ihm ihr Unbehagen Freude machen, doch sie hatte ihn ohnehin bereits als Loser abgestempelt, obwohl er trotz seiner Akne ganz gut aussah. Mit seinem dunklen Haar, den dunklen Augen und dem Körperbau eines Fußballspielers gab er sich furchtbar selbstgefällig und tat so, als könne er ihr bis tief in die Seele blicken.
Noch jemand, dem sie aus dem Weg gehen musste.
Neben Reverend Lynch stand Mr. DeMarco, ihr Chemielehrer, als wäre er eine Art Leibwächter. Er hatte schwarzes Haar, dunkle Haut und starrte die vor ihm Versammelten mit verkniffenem Gesicht an, doch Shay wurde den Eindruck nicht los, als würde er sie ganz besonders im Blick behalten. Er hatte etwas Echsenhaftes an sich und war nur schwer einzuschätzen.
Shay versuchte, ihn nicht anzustieren, und richtete deshalb die Augen auf den Fußboden, doch das half auch nicht viel. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Missy sie anfunkelte, doch sie tat so, als würde sie nichts bemerken. Vater Jake kehrte in den Gemeinschaftsraum zurück und stellte sich ein kleines Stück hinter Shay, und sie fühlte sich seltsamerweise ein wenig sicherer.
Als die ersten Töne der Hymne durch den Raum klangen, hoffte Shay inständig, dass Jules sie ernst nahm und einen Weg fand, sie aus diesem Irrenhaus herauszuholen.
Später, nach dem Abschlussgebet, schlüpfte der Anführer hinaus, um in der Dunkelheit unterzutauchen. Ein paar Schritte aus dem Lichtkreis der Außenlaterne, und schon war er hinter einer Gruppe junger Bäume verschwunden. Ein eisiger Winterwind zauste sein Haar und kühlte sein Blut ab.
Verstohlen beobachtete er, wie Shaylee den Gemeinschaftsraum verließ, genau wie er sie beobachtet hatte, als sie am Nachmittag ihrem Trupp zu den Ställen hinterhergetrottet war. Sie hatte etwas an sich, das ihn in ihren Bann zog.
Jetzt folgte sie zusammen mit den anderen Schülerinnen dem freigeschaufelten Pfad durch den Schnee hinüber ins Mädchenwohnheim. Während sich die anderen im Licht der Laternen unterhielten und lachten, blieb sie zurück, die einsame Neue, die keine Freundinnen hatte. Sie wirkte sorgenvoll, zerbrechlich, doch er wusste es besser. Shaylee war eine Kämpferin.
Selbst die stärkste Amazone braucht einen Verbündeten.
Still in sich hineinlächelnd, wusste er, dass es bald an der Zeit war, zuzuschlagen. Vorteil zu ziehen aus ihrem angeschlagenen emotionalen Zustand. Er würde ihr Trost bieten. Zuspruch. Ein offenes Ohr und eine starke Schulter zum Anlehnen.
Shaylee Stillman.
Er ließ sich den Namen auf der Zunge zergehen, während sie in den Lichtkegel einer Laterne trat, der ihre Züge erhellte.
Mürrisch.
Sexy.
Sinnlich.
Dreist.
Während der letzten Tage hatte er natürlich schon mit ihr gesprochen, sie willkommen geheißen. Schließlich wurde das von ihm erwartet. Aber er hatte sich ihr noch nicht offenbart, das wagte er nicht. Nicht, solange er nicht sicher sein konnte, dass sie eine willige Kandidatin war.
Er musste mehr über Shaylee in Erfahrung bringen, sie auf die Probe stellen, herausfinden, ob sie bereit war.
Er durfte sich nicht noch einmal einen Fehler erlauben.
Kapitel zehn
B ei all den Handys mit ihren Internetverbindungen über Satelliten im All und auf der ganzen Welt musste es doch einen Weg geben, mit Shay in Kontakt zu treten, dachte Jules verzweifelt. Sie rief Erin an, die ein paar Tricks kannte, wie man Rufnummern zurückverfolgen konnte, weil sie beruflich mit Handys zu tun hatte. Sie probierten ein paar Kniffe, leider jedoch erfolglos. Als Jules anschließend die Schule anrief, ging niemand an den Apparat, ein Anrufbeantworter verkündete, dass das Büro am nächsten Morgen wieder besetzt sei.
Es ging schon auf zweiundzwanzig Uhr zu, als Jules die Nummer ihrer Mutter wählte. Doch anstatt Besorgnis zu äußern, lachte Edie nur. »Wirklich,
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