S - Spur Der Angst
Schüler kennenzulernen, bevor sie am darauffolgenden Montag ihre Arbeit aufnehmen sollte.
Jules machte kehrt und marschierte zurück ins 101, wo sie Tony, den Geschäftsführer, in seinem kleinen Büro fand. Sie teilte ihm mit, dass sie wegen eines »familiären Notfalls« Urlaub nehmen müsse, ohne näher ins Detail zu gehen. Tony warf ihr einen »Was sollen wir bloß ohne dich anfangen«-Blick zu, aber sie besprach sich mit Dora, der ewigen Nörglerin, die gern mehr arbeiten wollte. Dora würde während der nächsten Wochen ihre Schichten übernehmen.
Als Jules nach Hause fuhr, spürte sie Vorfreude in sich aufsteigen. Am Wochenende würde sie Shay wiedersehen! Sie hoffte nur, dass sich ihre Schwester nichts anmerken lassen und sie dadurch verraten würde. Ihr Plan musste einfach funktionieren!
Nona blickte auf die Uhr. Null Uhr dreiundfünfzig. Sie hatte so getan, als wäre sie längst eingeschlafen, während sie darauf wartete, dass ihre dämliche Zimmergenossin endlich ihre Nachttischlampe ausknipste. Shaylee Stillman hielt sich nicht an die Regeln und weigerte sich, das Licht um dreiundzwanzig Uhr zu löschen. Bislang war sie damit durchgekommen. Vielleicht weil es einige Kids gab, die so spät noch ihre Hausaufgaben erledigen mussten. Die Licht-aus-Regel gehörte zu denen, die etwas großzügiger gehandhabt wurden, vor allem wenn man behauptete, im Dienste der Bildung länger aufzubleiben.
Jetzt war es still im Wohnheim, abgesehen von dem leisen Summen der Heizung. Keine Stimmen auf dem Flur, keine Schritte, die auf dem Weg ins Badezimmer an ihrer Tür vorbeigingen.
Nona spähte verstohlen zum Sprinklerkopf hinauf. Sie konnte nicht mit Gewissheit sagen, ob sie ständig beobachtet wurden, auch wenn das entsprechende Gerücht umging. Doch wer wusste schon Genaues? Bei Tim Takasumi, dem CB, der viel mit dem elektronischen Kram an der Schule befasst war, hatte es so geklungen, als seien in jedem Raum Kameras in den Sprinklern verborgen, doch sie hatte noch nie eine bemerkt, und sie war sich nicht sicher, ob sie Tim trauen konnte.
Es hätte zu Tim gepasst, ein solches Gerücht in die Welt zu setzen, nur um den Mythos, die Schule betreffend, zu befeuern. Tim hatte beschlossen, nach Abschluss des Programms zu bleiben, und absolvierte nun, unterstützt von den hiesigen Lehrkräften, die am Institut angebotene Collegeausbildung. So war es mit den CBs: Sie blieben hier kleben. Nona vermutete, dass sie einer Art Geheimbund angehörten; sie hatte mitbekommen, wie Missy Albright Eric Rolfe etwas wegen eines Treffens vor einigen Nächten in irgendeinem Unterschlupf zugeflüstert hatte. Worum immer es sich dabei gehandelt haben mochte.
Nicht dass es Nona interessierte, was irgendein obskures Grüppchen tat. Es kümmerte sie nicht, ob die Kids Acid schmissen oder Blut tranken. Es gab Wichtigeres, worüber sie nachdenken musste.
Zunächst einmal war da ihr Freund, der erste, mit dem sie richtig zusammen war. Der Scheißkerl zu Hause, der sie geprügelt und ihr dabei sogar einen Zahn ausgeschlagen hatte, zählte nicht; das war keine Liebe gewesen, so viel war ihr mittlerweile klar. Mit ihrem neuen Freund ging jedoch alles superschnell. Sie war noch keine sechzehn und schon so verliebt!
Ihr Freund hatte geschworen, dass er sie liebte, dass er sie brauchte, und er wusste ganz genau, wo er sie mit seinen Fingerspitzen berühren musste, um ihr wohlige Schauer zu entlocken. Als sie daran dachte, was er mit seinen Lippen, Fingern und nicht zuletzt seiner Zunge anstellte, wenn er sie an Stellen berührte, von denen sie bislang nicht mal im Traum geahnt hatte, dass jemand sie berühren könnte, wäre sie innerlich fast geschmolzen. Doch daran durfte sie jetzt nicht denken. Sie musste sich konzentrieren, um unbemerkt aus dem Wohnheim schleichen zu können.
Sie war überzeugt gewesen, bis zum College Jungfrau zu bleiben, vorausgesetzt, sie würde weiterhin zur Schule gehen, doch seit ein paar Monaten hatte sich das geändert, kurz nach Lauren Conways Verschwinden. Nona war ihm aufgefallen, und das gefiel ihr. Ihre Gefühle hatten ihr zunächst Angst gemacht, und sie erinnerte sich mit einem Schauder daran, wie er zum ersten Mal ihre Halsbeuge geküsst, daran geknabbert und sie sogar leicht gebissen hatte. Doch schon bald hatte ihre Lust jegliche Bedenken beiseitegefegt, und sie hatte festgestellt, dass ihr das gefiel; je gröber er war, desto erregter wurde sie.
Deshalb war sie aber noch lange keine Schlampe, oder? Oder gar
Weitere Kostenlose Bücher