S - Spur Der Angst
und eine gewissenhafte Schülerin war. Aus diesem Grund hatte man ihr auch das zweifelhafte Privileg eingeräumt, den Babysitter für Shaylee Stillman zu spielen, diese durchgeknallte Einzelgängerin, die eine echt beschissene Vergangenheit hinter sich hatte. Es war schon schlimm genug, dass Nonas Mom Zigaretten holen gegangen und nie mehr zurückgekehrt war, doch Shaylees Stiefvater war – so ging das Gerücht – ermordet worden! Kein Wunder, dass sie so verrückt war.
Mein Gott, sie hasste diese Shaylee! Okay, ein bisschen Mitleid hatte sie schon mit ihr, es war blöd, die Neue zu sein, wenn alle nur so taten, als würden sie einen mögen, aber so war es nun mal. Shaylee Stillman gab sich nicht gerade Mühe, Freundschaften zu schließen.
Sie warf einen letzten, angestrengten Blick durch die Dunkelheit auf das Bett neben ihrem und lauschte auf Shaylees inzwischen regelmäßige Atemzüge. Endlich.
Jetzt oder nie!
Lautlos schlüpfte sie hinaus und schlich den von der Nachtbeleuchtung schwach erhellten Gang entlang. Ihre Nerven lagen blank, ihr Herz trommelte wild, und sie befürchtete, dass jede Sekunde eine Tür aufgerissen und sie entdeckt werden würde, doch sie erreichte unbehelligt das Treppenhaus und stieg die Stufen hinunter in den Keller.
Im Wohnheim ging das Gerücht, dass sich so auch Lauren Conway davongeschlichen hatte. Nona war sich sicher, dass sie abgehauen und untergetaucht war – Ende der Geschichte. All das Gerede, sie sei umgebracht worden oder bei einem Unfall ums Leben gekommen, war doch Unsinn, genau wie die Berichte von Leuten, die behaupteten, ihnen sei Laurens Geist erschienen. Solche Storys sollten doch nur dafür sorgen, dass niemand aus der Reihe tanzte. Wenn sie wirklich tot war, wo zum Teufel war dann ihr Leichnam?
Man brauchte kein Genie zu sein, um zu begreifen, dass Lauren ganz einfach nicht nach Hause zurückkehren wollte, dass sie nach einer Möglichkeit suchte, den Problemen zu entkommen, die in Arizona – oder woher auch immer sie stammte – auf sie warteten. All das Geschwätz, sie sei freiwillig hierhergekommen, um als CB zu arbeiten! Das glaubte doch kein Mensch. Niemand kam freiwillig hierher. Also hatte sie sich eben aus dem Staub gemacht und war längst irgendwo in Mexiko, mit gefärbten Haaren, tropischer Sonnenbräune und einem Traumjob. Nie mehr lernen, keine Eltern mit all ihren Vorschriften, keine bescheuerte Blue Rock Academy.
Die Taschenlampe in der Hand, schlich Nona durch den unheimlichen Keller und versuchte, die Tatsache zu ignorieren, dass in den Rissen und Spalten des Mauerwerks mit ziemlicher Sicherheit Ratten und Spinnen hausten. Es roch nach feuchtem Staub und Schimmel, und das unablässige Tropfen eines Wasserhahns in der Nähe der Treppe zerrte an ihren Nerven.
Vorsichtig trat sie unter das Fenster, dessen Riegelschloss nicht richtig einschnappte. Eigentlich war es vor ein paar Monaten repariert worden, aber man hatte den Schaden nur halbherzig behoben, und es hatte nicht lange gedauert, bis eine der Schülerinnen den Riegel wieder gelockert hatte. Nona hatte diese grässliche Crystal Ricci in Verdacht, die einen Drachenschwanz um den Hals tätowiert hatte. Wow, wie attraktiv! Der absolute Abschaum.
Die Truhe, die die Mädchen als Tritt benutzt hatten, war verschwunden, doch gleich um die Ecke stand ein altes, ausrangiertes Schreibpult, das sich mühelos unter das Fenster schieben ließ. Nona kletterte hinauf und öffnete mit dem kleinen Schraubenzieher, der in einer Nische über der Fensterbank versteckt war, das defekte Schloss. Voilà – mit einem leisen Quietschen öffnete sich das Fenster.
Ein Schwall kalter Luft strömte herein, und sofort war es in dem modrigen Keller eiskalt. Nona steckte ihre Taschenlampe in die Jackentasche. Mit zusammengebissenen Zähnen umfasste sie die Fensterbank, stieß sich vom Pult ab und kroch durch das Fenster hinaus ins Freie.
Dort krabbelte sie auf allen vieren durchs Gebüsch und über den tiefen, harschigen Schnee zum freigeschaufelten Weg. Sie richtete sich auf, achtete darauf, dem Licht der Campuslaternen auszuweichen, und war froh, dass Mond und Sterne hinter einer dichten Wolkendecke verborgen waren. Es sollte noch mehr schneien, obwohl sie den Schnee jetzt schon bis obenhin satthatte.
Sie tastete in der Innentasche ihrer Daunenjacke nach ihrem Handy, das sie auf dem Schwarzmarkt von Blue Rock erstanden hatte. Jede Woche, wenn die Küchenhelfer mit dem großen Transporter in die Stadt
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