S - Spur Der Angst
war. »Ich habe es versucht, Tobias. Gott weiß, dass ich es versucht habe. Denk einmal daran, dass Jesus den Sündern vergeben hat! Du solltest dir ein Beispiel an ihm nehmen!«
»Hör auf damit. Es ist weder der rechte Zeitpunkt für eine solche Diskussion noch der rechte Ort!« Zorn schwang in seiner Stimme mit. »Es herrscht bereits genug Aufregung! Einige Eltern haben gedroht, ihre Kinder von der Schule zu nehmen, und die Reporter stürzen sich auf mich wie die Geier auf ein sterbendes Schaf. Der Wetterbericht warnt vor einem gewaltigen Blizzard, der ungebetene Besucher wenigstens noch eine Weile lang fernhalten wird. Zugleich werden wir nahezu von der Außenwelt abgeschnitten sein. Dennoch erwarte ich jede Minute, dass die neue Lehrkraft, Julia Farentino, hier eintrifft, also versuch wenigstens so zu tun, als wären wir ein glückliches Ehepaar. Gott stellt uns nun mal mitunter vor wahrhaft große Herausforderungen.«
»Jeden Tag«, pflichtete sie ihm bei. »Das tut er jeden einzelnen verfluchten Tag.«
Jules hätte am liebsten noch weiter gelauscht, aber ein leises Geräusch nur ein Stück den Weg hinunter erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie drehte sich um und erblickte zwei Jugendliche in marineblauer Kleidung, die auf die Kirche zueilten.
Die beiden schauten nicht einmal in ihre Richtung, als sie an ihr vorbeikamen.
Julia atmete tief durch und wartete, dass sich ihr Herzschlag wieder beruhigte.
So viel zu ihren detektivischen Fähigkeiten.
Sie schlich zurück zu den Stufen, dann marschierte sie geräuschvoll über die Veranda und pochte an die Tür. Plötzlich bemerkte sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung und warf einen schnellen Blick über die Schulter. Eine dunkle Gestalt stahl sich in den Schatten eines tiefhängenden Fichtenzweigs und huschte davon.
Ihr Herz fing erneut an, wie wild zu hämmern.
Hatte jemand sie beim Lauschen beobachtet?
Ein Mann?
Eine Frau?
Shays Befürchtung, ein Mörder laufe auf dem Campus herum, kam ihr in die Sinn, dazu Trents Überzeugung, dass Nona einem Mord zum Opfer gefallen war. Angst keimte in ihr auf, und sie spürte, dass sie eine Gänsehaut bekam. Suchend ließ sie den Blick über die dicht zusammenstehenden Tannen und Fichten gleiten, die rechts und links von Lynchs Blockhaus standen.
Waren da Schritte zu hören?
Das leise Knirschen von Stiefeln im tiefen Schnee?
Beruhige dich, alles ist in Ordnung. Du siehst Gespenster, und das alles nur wegen Shay. Reiß dich zusammen –
Die Tür des Blockhauses wurde schwungvoll geöffnet. »Ms. Farentino«, begrüßte Reverend Lynch sie mit dröhnender Stimme. Cora Sue, an ihrer unsichtbaren Leine, stand neben ihm.
»Nennen Sie mich doch Julia.«
»Kommen Sie rein, kommen Sie rein!«, rief er. »Ich bitte um Entschuldigung wegen der Hektik … was für eine Tragödie.«
»Ich habe davon gehört. Wie furchtbar.«
»Meine Frau, Cora Sue, haben Sie ja bereits kennengelernt.«
Mehr als einmal, dachte Jules. »Ja. In Seattle. Guten Abend.«
Die Augen der älteren Frau waren kalt, ihre Lippen zusammengepresst, die Spannung von der Auseinandersetzung mit ihrem Mann hing noch in der Luft.
»Willkommen«, sagte sie tonlos und trat einen Schritt zurück, um Jules vorbeizulassen. »Es tut mir leid, dass Ihre Ankunft von derart grauenhaften Umständen begleitet wird.«
»Mir auch. Ich hoffe nur, ich kann Sie unterstützen.«
Cora Sue sah sie an, als wäre sie nicht ganz bei Trost, doch der Reverend dröhnte im Brustton der Überzeugung: »Genau das ist die Einstellung, die die Blue Rock Academy zu einem Eliteinstitut macht – wir schaffen es!«
Ein Eliteinstitut – trotz vermisster, schwerverletzter und toter Schüler.
Kapitel einundzwanzig
D ann hast du das Fohlen neulich Nacht also nicht draußen in der Kälte stehen lassen.« Trent stieß sich von seinem Schreibtisch ab und musterte Zach Bernsen mit einem Blick, der keine Ausreden duldete.
»Nein.« Der Junge schüttelte so heftig den Kopf, als sei diese Vorstellung vollkommen abwegig. Er stand vor Trents Schreibtisch, die blonden Haare zerzaust, das Kinn abwehrend vorgeschoben.
»Du hattest die Aufsicht.«
»Alle Pferde waren drinnen, als ich die Boxen kontrolliert habe. Ich habe zweimal nachgezählt. Rolfe war bei mir. Er kann das bezeugen.«
»Ich spreche gleich mit ihm.«
Eric Rolfe kühlte sein Mütchen auf einem der Plastikklappstühle in dem kurzen Flur vor Trents Büro, der von der Sporthalle zu den Umkleiden führte. »Aber du bist der Ältere,
Weitere Kostenlose Bücher