S - Spur Der Angst
Eindruck aber auch gefärbt von Shaylees hysterischer Reaktion auf alles, was hier passierte.
Bislang kam es ihr so vor, als stünde Reverend Lynch permanent auf der Bühne und gäbe ein wohleinstudiertes Stück zum Besten. Trotz seines hochtrabenden Geschwafels schien er keinen wirklichen Draht zu den Schülern zu haben, was kein Wunder war bei seiner antiquierten Einstellung.
Jules kehrte in ihren Wohnbereich zurück, zog sich warm an und schnappte sich Gebetbuch und eine künstliche, batteriebetriebene Kerze, die man für sie bereitgelegt hatte. »Wer A sagt, muss auch B sagen!«, murmelte sie und machte sich auf den Weg zum Pavillon.
Es schneite immer noch wie verrückt, die weißen Flocken türmten sich auf Geländern, Ästen und Laternen und verliehen dem Campus einen unwirklichen Glanz. Sämtliche Pfade schienen in der weißen Masse zu enden. Jules ging in die Richtung, in die sich die meisten Lichter bewegten, und gelangte schon bald zu einem kleinen Bauwerk, in dem Reverend Lynch, flankiert von seiner Frau und Dr. Burdette, auf einem Podium stand. Yin und Yang, dachte Jules beim Anblick der beiden Frauen. Mit ihrer dicken Mütze, der Daunenjacke, der Thermohose und den klobigen Wanderstiefeln war Burdette das direkte Gegenteil von Lynchs Gemahlin in ihrem schmal geschnittenen, pelzverbrämten Designerskianzug.
Cora Sue schien es nicht zu kümmern, wie viele Hermeline oder Schneeleoparden ihr Leben für den Rand ihrer Kapuze oder ihre hochhackigen Fellstiefel gelassen hatten.
Jules hatte gehofft, dass Trent in der Nähe wäre, doch er stand am Rand der Menge in der Nähe des Wegs, der von der Campusmitte zu den Stallungen und Nebengebäuden führte. Sie hatte diesen Weg auf der Karte in ihrem Apartment gesehen. Trent schien sie nicht zu bemerken, und sie ertappte sich dabei, dass sie enttäuscht war, obwohl sie doch eigentlich Erleichterung hätte verspüren müssen.
Sie entdeckte Shay in der großen Gruppe, wich den Blicken ihrer Schwester jedoch aus und ließ die Augen stattdessen über die hell leuchtenden Kerzen vor den geröteten Gesichtern schweifen. Die Lehrer hatten sich unter die Schüler gemischt, und sie erkannte alle: angefangen bei Bert Flannagan bis hin zu Vater Jake.
»Vielen Dank, dass ihr alle erschienen seid«, ließ sich Reverend Lynch jetzt vernehmen. »Dieser Gottesdienst ist Nona Vickers zum Himmel aufsteigender Seele gewidmet und zugleich eine Bitte an unseren himmlischen Vater, Andrew Prescott schnell genesen zu lassen …« Er betete, und anschließend sprach er von Tragödie und Triumph. Ein weiteres Gebet folgte, dann ein gemeinsames Lied zum Abschluss, auf der Gitarre begleitet von einer der Schülerinnen. Alle fielen in die gekürzte Fassung von »Amazing Grace« mit ein, alte und junge Stimmen erhoben sich in den schneeverhangenen Himmel.
Wenn es eine Show war, dann eine gute.
Selbst Jules war beeindruckt, dabei war sie Zeugin der barschen Worte zwischen Lynch und seiner Frau geworden, die so gar nicht zu dem Bild des perfekten, liebevollen Paars passen wollten, das sie nach außen hin darstellten.
Während der Hymne erklomm jemand aus der Menge die Stufen des Pavillons und näherte sich dem Reverend. Jules blickte mit zusammengekniffenen Augen durch das hypnotisierende Meer kleiner Lichttupfer und erkannte Sheriff O’Donnell. Was mochte er Lynch wohl mitteilen?
Als die letzten Töne von »Amazing Grace« verklungen waren, hob der Reverend die Arme und verkündete: »Meine Brüdern und Schwestern in Christus, es gibt erfreuliche Nachrichten aus dem Krankenhaus. Unser lieber Freund Andrew ist nach der Operation aufgewacht und konnte sogar ein paar Worte mit seiner Familie und der Polizei wechseln.«
Ein Raunen ging durch die Menge, gefolgt von einem kollektiven Aufseufzen und vereinzelten Schluchzern.
»Das sind wirklich wunderbare Neuigkeiten«, tönte Lynch weiter. »Doch zugleich geht aus Andrews Aussage wohl klar hervor, dass er und Nona Vickers dem Angriff einer dritten Person zum Opfer gefallen sind.«
Entsetztes Schweigen senkte sich über die Menge, als seine Worte in die Köpfe eindrangen: Dann war es Mord gewesen. Daran bestand kein Zweifel: Nona Vickers war ermordet worden.
Jules betrachtete die jungen Gesichter um sie herum, schreckverzerrt, die Augen dunkle Höhlen im Kerzenschein. Sie war sich sicher, dass alle zu demselben grauenhaften Schluss gekommen waren.
»Ich muss euch daher bitten, auf dem Campus vorsichtig zu sein«, fuhr der Reverend
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