S - Spur Der Angst
der richterlichen Anordnung, sondern auch, weil der Sheriff seine Ermittlungen noch nicht abgeschlossen hat. Er und seine Leute sind noch dabei, die Schüler und das Personal zu befragen.«
»O mein Gott! O mein Gott!«, kreischte Edie, die offenbar kurz davorstand, hysterisch zu werden. »Und ich war überzeugt, das Richtige zu tun! Ich dachte, die festen Strukturen an der Schule würden ihr guttun! Ich dachte … Gütiger Himmel, Jules, ich weiß, du hast versucht, mich davon abzubringen, aber ich habe geglaubt, Reverend Lynch und Analise und –«
»Es ist schon gut, Mom«, beschwichtigte Jules, obwohl sie genau wusste, dass gar nichts gut war. Das einzig Gute war, dass Edie zur Abwechslung mal ein Fünkchen Mutterliebe zeigte. »Mit Shay ist im Augenblick alles in Ordnung, aber vielleicht solltest du schon mal die erforderlichen Voraussetzungen schaffen, um sie von der Schule nehmen zu können.«
»Ich kann nichts tun! Der Richter hat es so verfügt.« Edie stieß einen langen, zittrigen Seufzer aus, und Jules stellte sich vor, wie sie auf der Spitze ihres grell lackierten Fingernagels kaute.
»Dann sprich mit dem Richter. Nimm dir einen Anwalt.«
»Zuerst muss ich mit Reverend Lynch reden. Ich habe es vorhin schon versucht, aber ich bin nicht an seiner Sekretärin vorbeigekommen.«
Charla King. Jules hatte sie flüchtig kennengelernt.
»Versuch es weiterhin, und wenn du durchkommst, lass dich bloß nicht umstimmen. Und sorg dafür, dass dein Anwalt einen schriftlichen Antrag stellt oder sonst was.«
Edie beruhigte sich ein wenig. »Und dann? Wohin wird der Richter sie dann schicken? Ins Jugendgefängnis? In eine psychiatrische Klinik?«
»Vielleicht kann er sie in einer Tageseinrichtung unterbringen, an der keine Schüler ermordet werden«, sagte Jules, um ihrer Mutter den Ernst der Lage klarzumachen. »Mom, du musst Shaylee so schnell wie möglich aus Blue Rock herausholen.«
»Du hast recht. Ich werde Max anrufen«, beschloss Edie.
»Er ist bislang nicht gerade der verantwortungsvollste Vater gewesen«, gab Jules zu bedenken.
»Oh, das weiß ich, aber er hat das Geld … Ja?« Ihre Stimme klang gedämpft, als halte sie den Hörer zu, um die Tatsache zu verbergen, dass sie mit jemand anderem sprach, der bei ihr im Zimmer sein musste – zweifelsohne der knackige, fesche Golfspieler Grant, ihr neues Spielzeug. »Entschuldige bitte«, sagte Edie schließlich und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Telefongespräch mit ihrer Tochter zu. »Hat Shaylee dir eine Telefonnummer hinterlassen, unter der man sie erreichen kann?«
»Nein, du weißt doch, dass die Schule unter normalen Umständen keine Telefonate gestattet.« Jules ging zu dem großen Fenster, das auf den Campus wies. Draußen war alles still. Ein Deputy stand in der Nähe des Pavillons. »Aber sie hat gesagt, dass Blue Rock die Sicherheitsvorkehrungen verschärft hat und dass sich Officer vom Büro des Sheriffs auf dem Schulgelände befinden.«
»Gott sei Dank! Das erleichtert mich ein wenig. Wenn sie wieder anruft, richte ihr doch bitte aus, sie soll sich bei mir melden. Und ich werde bis dahin weiter versuchen, Reverend Lynch zu erreichen.«
Du und alle anderen halbwegs vernünftigen Eltern, die Kinder an dieser Schule haben, dachte Jules, legte auf und atmete tief durch. Der Umgang mit Edie war nie leicht gewesen, doch in Krisenzeiten wurde es stets noch schlimmer. Plötzlich kam ihr der Gedanke, dass Edie womöglich mehr erfahren könnte, als ihr lieb war, wenn sie endlich zu Tobias Lynch durchkam. Vor allem wenn Lynch ins Schwafeln geriet und ihr weismachte, wie gut die Schule dieses Unglück bewältigte, Trauerbegleitung und verstärkte Sicherheitsmaßnahmen aufbot und sogar eine neue Lehrerin eingestellt hatte, eine gewisse Ms. Julia Farentino …
Doch im Augenblick musste Jules das Risiko eingehen. Sie blickte wieder hinaus und entdeckte einen weiteren Deputy, der in seinem Wagen eine Zigarette rauchte. Die Spitze glühte rot zwischen den dicken Schneeflocken auf, die unablässig vom Himmel fielen, als wollten sie alle Geheimnisse von Blue Rock unter sich begraben.
Mit den Jahren hatte Shay einen Großteil ihrer Bewunderung für ihre ältere Schwester verloren. In mancher Hinsicht hatte Jules ganz schön Mist gebaut: Sie hatte ihre Ehe vergeigt und so manchen Job, und sie schien nie wirklich die Kurve zu kriegen. Ständig klagte sie über Migräne und schlaflose Nächte, wirkte schwach oder zumindest wie das Opfer ihrer
Weitere Kostenlose Bücher