Sabihas Lied
Grund fortbestand, bekam Sabiha allmählich das Gefühl, eine Mauer der Gleichgültigkeit würde um sie herum errichtet, die sie aufs Grausamste vom ganzen Sinn und Zweck ihres Lebens trennte, und sie fragte sich, ob sie vielleicht für eine Sünde bestraft wurde, die sie gar nicht begangen hatte. Die Ungerechtigkeit ihres kinderlosen Daseins brannte ihr jeden Tag aufs Neue in der Seele. Womit hatte sie das verdient? Hatte sie nicht stets ein unbescholtenes Leben geführt? John und sie hörten schlieÃlich auf, darüber zu sprechen. Das Thema war zu schmerzhaft. Doch obwohl sie kein Wort mehr darüber verlor, war Sabiha nach wie vor felsenfest entschlossen, ihre kleine Tochter zur Welt zu bringen. Diese Hoffnung gab sie nicht auf. Eines Tages, da war sie sich ganz sicher, würde sie ihr Töchterchen im Arm halten. Das Kind, das sie in ihrem Bauch hatte flattern spüren, als sie an jenem Sommertag in Johns Armen am Ufer der Eure lag. Ein anderes wollte sie nicht. Es war die kleine Tochter ihrer Träume.
Als John Sabiha fragte, ob sie von Brunos Kindersegen wusste, hatte sie gerade an ihren Panikanfall auf dem Markt zurückgedacht, an das Bild des jungen Mädchens, das vor der alternden Frau floh. Sie hörte auf zu essen und sah ihn verblüfft an. Als er seine Hand auf ihre legte, mit den Worten »Tut mir leid, Liebling, das war wirklich dämlich«, hätte sie ihm am liebsten ihren noch vollen Teller ins Gesicht geschleudert.
Sie entzog ihm ihre Hand, und anstatt ihn zu schlagen, lachte sie. In diesem Lachen klangen Jahrzehnte von Frustration, Bitterkeit und Zorn an. Danach griff sie zu ihrem Weinglas.
»Ja!«, rief sie. »Für jedes Jahr, das sie verheiratet sind, hat er ihr ein Kind geschenkt!« Wieder gab sie dieses laute, derbe Lachen von sich, das nicht zu ihr gehörte, sondern zu einer anderen, aggressiveren Frau. Sie trank das Glas leer und stellte es wieder ab, ohne es loszulassen, als wäre es eine Handgranate, die sie jeden Moment durchs Fenster oder John an den Kopf werfen würde. SchlieÃlich sah sie ihn an und lächelte.
»Es tut mir leid«, wiederholte er, von ihrem eigenartigen Lächeln verstört.
»Bruno hat eben die volle Punktzahl erreicht, John.«
Er hatte den Eindruck, dass Sabiha mit einer gewissen Häme gesprochen hatte. Das entsprach ihr ganz und gar nicht, und er wusste nicht, wie er reagieren sollte. Vielleicht lag es ja tatsächlich an ihm. Sie würden es wohl nie erfahren. Sabiha sah ihn erwartungsvoll an. »Stimmt doch, oder?«
»Bruno und Angela sind noch einige Jahre länger verheiratet als wir, Liebling«, antwortete er, um Beiläufigkeit bemüht. »Also bei weitem mehr als elf Jahre. Sicher, sie haben viele Kinder, aber als volle Punktzahl kann man das nicht bezeichnen.«
»Wie pedantisch du doch bist«, sagte sie matt.
Ihr grässliches Lachen hatte ihn völlig verunsichert. Es hatte ihn einsam gemacht.
»Elf! Fünfzehn! Zwanzig!«, rief Sabiha ungeduldig. Es war, als würde sie gleich schreien oder in Tränen ausbrechen oder ihm eine Ohrfeige verpassen, wenn er noch ein einziges Wort äuÃerte. »Was macht das schon für einen Unterschied? Natürlich hat Bruno die volle Punktzahl erreicht, John! Das kannst du nicht abstreiten.«
Sie nahm den Krug und schenkte sich ein weiteres Glas Rotwein ein. Nachdem sie einen groÃen Schluck getrunken hatte, stellte sie das Glas mit übertriebener Vorsicht ab. Jetzt hatte sie wirklich Tränen in den Augen. Eine ihrer Haarnadeln hatte sich gelöst, so dass ihr dicke Strähnen ins Gesicht fielen. Sabiha strich sich die Haare zurück.
John hätte sie so gern in den Arm genommen, er hätte ihr so gern gesagt: Wirst schon sehen, mein Schatz, eines Tages bekommst du dein Kind, das schwöre ich dir, bei meinem Leben, bei allem, was mir lieb und teuer ist, ich schwöre dir, du bekommst dein Kind. Natürlich konnte er ihr nichts dergleichen schwören.
»Du hast recht«, gab er klein bei. »Ja, du hast recht.« Betrübt starrte er auf seinen Teller, unfähig, den Kopf zu heben und ihr in die Augen zu sehen. Er fühlte sich schuldig, ungerecht behandelt, verlassen und unglücklich. Ihm fiel nichts ein, was er hätte sagen können.
Bedächtig schnitt er ein Stückchen Lamm ab, spieÃte es mit der Gabel auf, steckte es sich in den Mund und fing an zu kauen. Sabiha
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