Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sabihas Lied

Sabihas Lied

Titel: Sabihas Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Miller
Vom Netzwerk:
er ständig mit mir konkurrierte und meine Erfolge leugnete.
    Als die Kellnerin kam, bestellte ich einen fettarmen Caffè Latte.
    Danach saßen John und ich eine Weile schweigend da. Im Café herrschte Hochbetrieb, es wurde laut geklappert und geplappert. Es waren überwiegend junge Leute. In diesen Lokalen bin ich oft der einzige Alte. Ich nahm Johns Buch und drehte es um, weil ich den Titel lesen wollte. Es handelte sich um eine alte Penguin-Klassikerausgabe von Homers Ilias . In der Übersetzung von E.V. Rieu, die meiner Generation so vertraut gewesen war. Ich hatte sie seit über vierzig Jahren nicht mehr aufgeschlagen. Gelbe Post-it-Zettel lugten daraus hervor.
    Â»Das nehme ich gerade mit meinen Schülern durch«, sagte John. Er tippte das Buch an. »Nicht alles. Nur einzelne Abschnitte. Ihnen gefällt das Blutvergießen.«
    Ich bedankte mich bei der Kellnerin, die mir eben den Caffè Latte serviert hatte. Dann griff ich zum Zucker. »Ich habe unsere Treffen vermisst.«
    Er nickte.
    Â»Kein Unterricht heute?«
    Â»Die Lehrpläne werden gerade erstellt.«
    Danach schwiegen wir wieder. Es war kein unangenehmes Schweigen, aber es zeigte mir, wie wenig ich über ihn wusste, trotz seiner Bekenntnisse. Ich hatte das Gefühl, seine Frau besser zu kennen als ihn. Obwohl er mir so viele intime Details aus ihrem Eheleben anvertraut hatte, war dabei nur wenig über ihn selbst ans Licht gekommen. So hätte ich beispielsweise nicht zu erraten vermocht, woran er jetzt dachte. Dachte er daran, wie er seinen Zweitsprachlern die Ilias nahebringen sollte? Oder dachte er an seinen toten Vater? Er hatte in seiner eigenen Geschichte nicht gerade die Hauptrolle übernommen. In vielerlei Hinsicht war es ihm sogar gelungen, sich selbst fast auszulöschen. Wie er da so zusammengesackt auf dem Stuhl saß, mit der linken Hand das Buch befingernd, konnte ich mir nicht mal ansatzweise vorstellen, was er als Nächstes sagen würde. Vielleicht versuchte er auch bloß, nicht ans Rauchen zu denken.
    Â»Als Letztes hast du erzählt, wie du Sabiha versprechen musstest, sie nie wieder zu bitten, dich nach Australien zu begleiten, solange sie ihrem Vater nicht das Kind gezeigt hatte.«
    Er lächelte, nickte und schwieg.
    Ich dachte an die vielen Jahre, die jenen Tag in ihrem Schlafzimmer im Chez Dom von diesem Tag trennten, an dem er mit mir in einem Café in Carlton saß. »Hast du dein Versprechen gehalten?«, fragte ich.
    Langsam hob er den Kopf, als wäre er in Gedanken meilenweit von dem entfernt gewesen, was ich anzusprechen versuchte. Er sah mich an und sagte: »Danach ist Houria gestorben.«
    Das traf mich wie ein Schock. Diese unfassbare Lücke, die der Tod plötzlich reißt, dort, wo eben jemand stand, das Leben noch vor sich.
    Â»Sie hatte mir geholfen, das alles durchzustehen.«
    Ich fragte mich, was das alles zu bedeuten hatte.
    Er sah mich unverwandt an, hielt meinem Blick stand, schaute aber in mich hinein, durch mich hindurch, an mir vorbei in seine eigene Vergangenheit, auf den Tod dieser großartigen Houria Pakos, um die ich wohl nicht einmal würde trauern können. Ihr Tod lag schon so lange zurück. Dass sie gestorben war, kam mir furchtbar ungerecht vor. Die ganze Zeit hatte ich mich darauf gefreut, sie einmal kennenzulernen. Daran hatte er also gedacht: An den Tod. Den seines Vaters und den von Houria. Ein Gedanke, ein Toter führt zum nächsten. Ich hätte selbst genug Stoff zum Nachdenken gehabt, wenn ich gewollt hätte. So viele meiner Freunde und Angehörigen waren tot. Meine Geister. Wie leicht es mir nun fiel, sie zu lieben. Inzwischen habe ich mehr tote Freunde als lebende.
    Â»Um zu erkennen, dass das Chez Dom mit Houria auch seine Seele verloren hatte, haben wir eine Weile gebraucht, etwa einen Monat. Die Verbindung zu Dom Pakos und zur Entstehungszeit war abgerissen. Nach Hourias Beerdigung fing Sabiha bald an, den Gästen am Samstagabend ihre alten Lieder vorzusingen. Sie sagte, damit wollte sie die Männer an ihre Heimat und an ihre Frauen und Kinder erinnern. Ich dachte mir aber, dass sie in Wahrheit für Houria sang, aus alter Verbundenheit mit der Schwester ihres Vaters, mit ihrem früheren Zuhause in El Djem. Wenn jemand stirbt, endet mit ihm eine Epoche. Als Houria noch lebte, hatte sie für diese Lieder nicht viel übrig, aber nach ihrem Tod hatte man das Gefühl, dass sie ihnen

Weitere Kostenlose Bücher