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Sabihas Lied

Sabihas Lied

Titel: Sabihas Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Miller
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ließ ihn nicht aus den Augen. Sein Mund war so trocken, dass er nicht imstande war, den Fleischbrocken hinunterzuschlucken. Unablässig kauend, blickte er zur Straße hinaus. Die Nachmittagssonne spiegelte sich im Schaufenster des Lebensmittelladens an der Ecke, den die Kavi-Brüder führten, und verwandelte das schäbige Gebäude von gegenüber in einen goldenen Tempel. Noch nie hatte Sabiha ihn John genannt. Nicht einmal in den allerersten Tagen ihrer Beziehung. Immer war er für sie Liebling gewesen oder Geliebter oder Liebster oder mein Herz. Mein Held. Manchmal auch mein wunderbarer Ozzie. Aber nie John. Trotz allem fühlte er sich im Recht.
    Er nahm sein Glas, um das schauderhafte Etwas in seinem Mund hinunterzuspülen. Während es ihm durch die Speiseröhre glitt, musste er an seine alte Hündin Tip denken, wenn sie ein Stück rohes Fleisch verschlang, und an das Geräusch, das dabei entstand. Der Wein ätzte seinen Gaumen, er war rau und kalt und säuerlich. Sein Lieferant glaubte, ihm getrost minderwertige Ware unterjubeln zu können. Das war John längst aufgefallen, aber er wollte lieber jeden Ärger vermeiden. Er wusste, dass man ihn den ruhigen Australier nannte. Und das traf durchaus zu. Er war stolz auf seine Umgänglichkeit. Er wollte gern von allen gemocht werden. Doch nun beschloss er, die miserable Qualität nicht länger hinzunehmen. Noch an diesem Nachmittag würde er mit dem Weinhändler ein Hühnchen rupfen.
    Da John hartnäckig schwieg, lachte Sabiha gereizt auf, nahm Messer und Gabel und aß weiter.
    So zogen die Minuten dahin, die Stille wurde nur vom Klirren und Klappern des Bestecks unterbrochen. Hinter ihnen standen lauter verwaiste Tische. Neben ihnen waren Fenster und Tür mit dem altvertrauten, verblassten grünen Anstrich versehen, den John fast zehn Jahre zuvor zuletzt aufgefrischt hatte, als Houria noch lebte.
    Das Telefon klingelte.
    Sabiha legte Messer und Gabel aus der Hand, sie stand auf, ging hinter den Tresen und nahm den Hörer ab. »Hallo?«
    Mit einer Stimme, die sie kaum wiedererkannte, so dumpf klang sie, ohne Spur der üblichen Mannhaftigkeit und Stärke, sagte ihr Vater: »Du hast es ja kommen sehen, mein liebes Kind. Ich habe Krebs.« Er lachte. Es war ein kehliges, gedämpftes Lachen, das nicht richtig nach außen drang.
    Sabiha entnahm dem Lachen ihres Vaters, dass er den Krebs heiter begrüßte, als Boten, der ihn endlich von der Bürde seines Lebens befreien würde. Das Wissen um seinen nahenden Tod machte ihm nichts aus. Sie wurde von Trauer und Wut gleichermaßen überwältigt.
    Er sagte, dass er sie liebe und auf ihren baldigen Besuch hoffe. »Aber nur, wenn du und John nicht zu viel um die Ohren habt«, fügte er hinzu. Sabiha erwiderte, dass sie ihn auf jeden Fall besuchen und längere Zeit bei ihm bleiben würde. Sie sagte nicht: Um mit dir zusammen auf das Ende zu warten . Beide wussten, was gemeint war. Sie schwiegen eine Weile. Als Sabiha im Hintergrund einen Motor dröhnen hörte, fragte sie: »Ist das der Bus nach Tunis?«
    Ja, bestätigte er, der Bus sei gerade abgefahren.
    Sie sah den alten grün-gelben Bus vor sich, wie er vom Postamt abfuhr, schwarzen Rauch aus dem Auspuff spuckend, wie sie selbst das Gesicht ans Fenster presste, als sie ihre Heimat Richtung Paris verließ, wie sie ihrer Mutter und Schwester und ihrem geliebten Vater zum Abschied winkte. Sie konnte die Abgase riechen, in der schwülen Hitze eines Herbstmorgens in ihrer Heimat.
    Â»Bist du etwa allein zum Postamt gelaufen?«
    Ja, war er.
    Sie fragte nach ihrer Schwester.
    Â»Zahira geht es gut, und sie kümmert sich rührend um mich. Es wird schwer für sie sein, wenn sie allein zurückbleibt.«
    Als das Gespräch beendet war, setzte sich Sabiha wieder an den Tisch. Anstatt weiterzuessen, blickte sie auf die sonnige Straße hinaus. Das Lamm, die gebackene Aubergine und die scharf gewürzten gefüllten Tomaten auf ihrem Teller waren inzwischen kalt. Sie stellte sich vor, wie ihr Vater nach dem Telefonat über die staubige Straße in ihr altes Haus in El Djem zurückkehrte. Wie er wieder einmal mit dem Haken am Eisentor kämpfte, diesem leidigen Ding. Wie er dann schwankenden Schrittes den schmalen Hof durchquerte, den Kopf einzog und sich am Stamm abstützte, als er unter die niedrigen Äste des Granatapfelbaums lief, in denen nachts

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