Sabihas Lied
seine Hühner schliefen, gleich neben dem Gemüsebeet. Noch bevor er die Haustür erreichte, ging sie auf. Zahira erwartete ihn im kühlen Flur. Sabiha sah, wie ihr Vater sich in seinen Sessel setzte und das Glas Minztee entgegennahm, das Zahira ihm reichte. Sie dachte daran, wie ihr Vater sie immer genannt hatte: Trotzkopf. Als wäre das ihr wahres Wesen. Wie er sich damit brüstete, dass sie einen Ausländer geheiratet hatte, in Paris lebte und dem Elend von El Djem entkommen war. Er war immer für sie eingetreten. Er war so stolz auf sie. Er war ihr Held. Das letzte Mal hatte er vor knapp fünf Jahren angerufen, um ihr zu sagen, dass ihre Mutter ganz plötzlich gestorben war. Wie schnell diese fünf Jahre vergangen waren.
Sabiha straffte die Schultern und starrte auf die StraÃe, die Punktsieger Bruno vorhin passiert hatte. Und da erkannte sie jäh, mit einer Klarheit, die sie nach Luft schnappen lieà â John sah sie forschend an â, wie zerbrechlich und flüchtig jedes Leben war. Ihr Vater, der von jeher da gewesen war, würde es bald nicht mehr sein. Das für immer und ewig ihrer Kindheit hatte seine Geltung verloren.
Sie wandte sich John zu. Am Telefon hatte sie Arabisch gesprochen. »Es war mein Vater«, sagte sie mit einer Mischung aus Kummer und Zorn. »Auf seine alten Tage hat er sich tatsächlich noch Lungenkrebs eingefangen.«
»Das tut mir sehr leid. Können sie ihn dort behandeln?«
Sabiha stand auf und sammelte die Teller ein.
»Alles in Ordnung, Liebling?«, fragte er weiter.
Stumm sah sie auf ihn herab. Am liebsten hätte sie gesagt: Natürlich nicht! Was glaubst du denn? Du hast doch nur eines im Sinn, sobald mein Vater gestorben ist, wirst du nach Australien zurückkehren. Ich weiÃ, dass sein Tod für dich eine Erleichterung bedeutet. Aber so schnell gebe ich mich nicht geschlagen. Ich halte an meinem Vorhaben fest. Bevor mein Vater stirbt, werde ich ihm meine kleine Tochter in den Arm legen. Wartâs nur ab!
»Sie haben ihm eine Operation angeboten«, sagte sie stattdessen, »um einen Lungenflügel zu entfernen, und anschlieÃend noch eine Chemotherapie. Er will aber keine Behandlung. Er will der Natur ihren Lauf lassen. Das ist typisch für meinen Vater. Und er hat recht.«
Sie ging in die Küche und fing an, die Stapel schmutziger Teller und Töpfe vom Mittagstisch zu spülen. Sie würde ihren Vater bitten, ihr noch etwas Zeit zu geben. Er war ein tapferer Mann. Er würde die Kraft aufbringen, auf sie zu warten.
Sabiha sang bei der Arbeit. Das Lied handelte vom Traum einer Frau, ihre GroÃmutter hatte es ihr und Zahira oft vorgesungen, als sie Kinder waren. In ihrem Traum begibt sich die Frau eines Nachts ganz allein in die Wüste und tötet einen Löwen. Der Löwe hatte zwar schon seit Jahren die Dorfkinder bedroht, aber den Männern war es nicht gelungen, ihn zu töten. Als sie das alte Lied nun an der Spüle sang, erkannte Sabiha, was dieser Traum zu bedeuten hatte, und das schenkte ihr neuen Mut. Jetzt war es für sie an der Zeit, selbst zu handeln, genau wie die Frau aus dem alten Lied ihrer GroÃmutter. Sie durfte nicht länger warten, sondern musste sich aufmachen und ihren Löwen töten. Kein anderer würde es jemals an ihrer Stelle tun. Und wenn sie nicht endlich handelte, wäre es bald zu spät. Die Wechseljahre würden einsetzen, und dann wären alle Kinder tot.
In absehbarer Zeit bliebe nur noch Zahira in dem Haus übrig, in dem sie zusammen eine glückliche Kindheit verbracht hatten, sie würde für niemand anderen mehr sorgen können als für sich und würde nichts anderes mehr tun können, als den Makel ihrer Ehelosigkeit mit Würde zu ertragen. Wie sollte man einen solchen Löwen besiegen? In Sabihas Augen war das unmöglich. Zahira hatte ihre Chance schon vor vielen Jahren vergeben. Jetzt musste sie sich mit ihrem Schicksal abfinden.
Sabiha weinte, während sie am Spülbecken stand und an ihren Vater dachte. Das Bewusstsein, dass das Lied ihrer GroÃmutter ihr gerade dann eingefallen war, als sie es am meisten brauchte, gab ihr Kraft und stärkte ihre Zuversicht. Zunächst hatte sie zu singen begonnen, ohne einen Gedanken an das Lied zu verschwenden, die Worte waren ihr einfach in den Sinn und über die Lippen gekommen. Als sie und ihre Schwester noch klein waren, hatten sie zwar nicht begriffen, was
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