Sabihas Lied
das Lied wirklich bedeutete, aber sie waren von der Vorstellung in Bann geschlagen, dass diese Frau sich unter dem Sternenhimmel allein in die Wüste wagte. Der alte Löwe sah schläfrig und gelangweilt zu, wie sie auf seine Höhle zukam, ohne im Geringsten zu ahnen, dass sie ihn töten wollte. Es war ein schönes Lied. Ein groÃartiges Lied. Sie hatte es schon immer geliebt. Es erfüllte sie mit Dankbarkeit, dass ihre GroÃmutter es ihr beigebracht hatte, die es wiederum von ihrer Mutter gelernt hatte, das Lied verband sie über Generationen hinweg mit den ersten Frauen ihrer Sippe, führte sie in die mythische Entstehungszeit zurück, als die Worte sich noch göttlicher Inspiration verdankten. Dieses Lied war ihrer Vergangenheit entsprungen. Es handelte von ihren Wurzeln. Und nun hatte es ihr die Kraft gespendet, die sie in ihrer Lage brauchte.
A m nächsten Morgen bereitete Sabiha in der Küche eine Ladung Filoteig zu. Wieder herrschte schönes Wetter, durch die offene Tür fiel Sonnenlicht auf die alten Bodenkacheln. Sabiha konnte die Wärme förmlich riechen. Als sie gerade zwei verschiedene Mehlsorten, die sie mischen wollte, auf der Marmorplatte zu gleichmäÃigen Haufen aufschüttete, erkannte sie schlagartig, wie gering die Aussicht in Wirklichkeit war, das Kind jemals zu bekommen. Aus heiterem Himmel befiel sie die finstere Gewissheit, dass ihr Kind nur ein närrischer Traum war. Ihr Herz schien erst mit einem gewaltigen Sprung auszusetzen, dann fing es an, wie wild zu rasen. Sie schloss die Augen, klammerte sich an den Rand der kühlen Marmorplatte. »Gott helfe mir!«, flüsterte sie, während um sie herum die Welt versank.
Aus dem Hintergässchen trat John in die Küche, mit einem Sack Zwiebeln über der Schulter. Bei Sabihas Anblick erstarrte er. Breitbeinig stand sie da, über die Arbeitsplatte gebeugt, drückte mit dem Bauch dagegen, hielt sich krampfhaft am Rand fest, mit zurückgeworfenem Kopf und geschlossenen Lidern, die Lippen leicht geöffnet. Sie keuchte, und bei jedem mühsamen Atemzug stöhnte oder murmelte sie leise.
John lieà den Zwiebelsack fallen und stürmte auf sie zu. »Liebling, was ist los?«
Sie schob seine Hände weg und wich von der Arbeitsplatte zurück. Mit mehlbestäubten Fingern fasste sie sich an den Hals. »Es ist nichts«, sagte sie. »Wirklich!« Sie brachte sogar ein merkwürdig krächzendes kleines Lachen zustande. »Ich habe mich nur an einem Stück Sesamplätzchen verschluckt.« Sabiha räusperte sich demonstrativ. Das Zittern, das ihren ganzen Körper erfasst hatte, lieà nach. Es ging ihr wieder gut. Mit John hatte das nichts zu tun. Es war auch kein Weltuntergang. Die Zweifel hätten sie fast überwältigt, aber jetzt hatte Sabiha sie abgeschüttelt. Natürlich würde sie ihr Kind bekommen! Das stand auÃer Frage. »Ich hatte nur kurz das Gefühl zu ersticken«, erklärte sie.
John sah sie ungläubig an. Ihre Augen funkelten so stark, als hätte sie gerade etwas Aufwühlendes erlebt. »Was ist passiert? Was hast du gemacht?«
»Nichts. Das habe ich dir doch eben gesagt. Ich habe mich nur verschluckt«, wehrte sie ab. Sie sah ihn gebieterisch an. »Ich habe zu schnell gegessen. Das ist alles. Du brauchst gar nicht so besorgt dreinzuschauen.« Als sie sich an den Hals fasste, hinterlieÃen ihre Finger weiÃe Mehlspuren auf der dunklen Haut. Auf einmal hatte sie Lust zu lachen. »Mir geht es gut.« Und dann lachte sie wirklich, ein lautes, beinah hysterisches, leicht unkontrolliertes Schnauben, so stark waren die Gefühle, die in ihr aufkamen. Sie lächelte unwillkürlich. Ab jetzt ist alles anders. Eine aufregende Vorstellung. Die furchtbaren Zweifel hatte sie überwunden, dafür hatte sich in ihr etwas gelöst. Der Stillstand war vorbei. Die Jahre der stummen Resignation, das lange Warten, die quälende Ungewissheit, ob das Erhoffte eintreten würde â das alles war vorbei. Das hieà vielleicht auch, dass John auf der Strecke bleiben würde. Dass sie ihn in gewisser Hinsicht bereits hinter sich gelassen hatte. Sie folgte ihm mit den Augen, als er zur Spüle ging und ein Glas mit Wasser füllte. Er tat ihr leid. Nachdem er ihr das Glas gereicht hatte, blieb er neben ihr stehen und wachte fast schon väterlich darüber, dass sie es austrank. Er nahm ihr das leere Glas ab,
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