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Sabihas Lied

Sabihas Lied

Titel: Sabihas Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Miller
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freute sich, dass er wieder bei ihr war. Lächelnd sagte sie: »Ich habe mich schon gefragt, wo du geblieben bist. Du hast deine Musik laufen lassen.«
    Sie sahen sich an.
    Er trat auf Sabiha zu und drückte sie an sich.
    Sie legte den Kopf auf seine Schulter. »Ich liebe dich über alles, John Patterner«, wisperte sie.
    Â»Und ich liebe dich auch«, erwiderte er. »Du riechst so wunderbar.«
    Â»Du auch«, flüsterte sie. »Du riechst nach Heimat.«
    Er lachte gerührt, hielt sie ein Stück von sich weg und sah ihr ins Gesicht. »Du weinst ja wieder.«
    Â»Tut mir leid.«
    Er drückte sie ein weiteres Mal an sich. Seine Stimme drang gedämpft durch ihr Haar. »Weine, soviel du magst, mein Schatz, solange wir uns nur gegenseitig festhalten können.«
    Lange standen sie in dieser innigen Umarmung da. John schloss die Augen und atmete ihren Duft ein.
    *
    Tränen strömten ihr über die Wangen, als sie die Zwiebeln hackte. Sie wischte sie mit einem Schürzenzipfel weg. Im Speiseraum sang John das Lied von Carole King, während er die Tische deckte. Wie sollte sie ihm jemals beichten, was sie getan hatte? Sie nahm das Brett und schob die Zwiebelwürfel mit der stumpfen Messerseite in die Pfanne – genau wie Houria es immer getan hatte. Manchmal hatte Sabiha das Gefühl, sie wäre Houria. Sie rührte die Zwiebeln einmal um, dann bückte sie sich, um eine Selleriestaude aus dem Korb unter der Arbeitsplatte zu holen. Sie brach sie entzwei und spülte die Erde unter dem Wasserhahn weg. An ihren Fingern blieb der herrliche Geruch nasser Erde haften. Wie verblüfft sie gewesen war, als sie das erste Mal feststellte, dass französische Erde anders roch als die Erde ihres Vaters. Sie hatte angenommen, dass die Erde überall so roch wie die Erde ihrer Heimat. Egal, wie lange sie in Frankreich lebte, sie würde hier immer eine Fremde bleiben. Sie und John, sie waren beide Fremde. Houria hingegen war keine Fremde gewesen. Wie konnte das sein? Wie war es Houria gelungen, in Paris Wurzeln zu schlagen? Sabiha erkannte allmählich, dass sie und John nicht länger in Paris würden leben können, wenn das Kind erst mal da war. Und für John kam Tunesien nicht in Frage. Selbst für sie kam Tunesien nicht in Frage. Zum ersten Mal in ihrem Leben gestand sie sich ein, dass sie nicht mehr mit einer Rückkehr in ihre Heimat rechnete. Bisher hatte sie stets die Vorstellung gehegt, dass Paris nur ein Zwischenspiel war, dass sie eines Tages für immer nach El Djem zurückkehren würde. Aber das würde sie natürlich nicht tun! Wie sollte sie? Sobald ihr Vater das Kind gesehen hätte, wäre sie frei und ihre Zeit im Chez Dom beendet. Sie war ja nicht nach Frankreich ausgewandert, sondern war nur hergekommen, um ihrer trauernden Tante zu helfen.
    Das Chez Dom hatte ihr und John niemals richtig gehört. Sie hatten das Café nie zu ihrem Lebensinhalt gemacht, vor allem John nicht. Nach Hourias Tod hätte auch das Chez Dom sang- und klanglos sterben müssen, hätten sie und John die Tür hinter sich zumachen und weggehen und etwas Eigenes auf die Beine stellen müssen. Sie hatten noch gar nichts Eigenes zuwege gebracht. Auf einmal wurde ihr klar, dass sie und John nach der Geburt des Kindes nach Australien gehen und dort zu dritt ein neues Leben anfangen mussten. In Australien wären sie dann eine Familie. Die Arme taten ihr weh vom Zerstoßen der Gewürze in Doms altem Mörser. Sie straffte die Schultern und lockerte Arme und Finger. Bis heute wusste ich genau, dass ich eine anständige Frau bin, dachte sie. Aber was soll ich jetzt von mir halten?

Vier

C lare und ich tranken gestern wie immer unseren Morgenkaffee am Küchentisch, sie las Zeitung und ich starrte durch die Glastür auf unseren trostlosen Garten und fragte mich, womit ich mir bloß den Tag vertreiben sollte. Unter dem Tisch lehnte Stubby den Kopf an meine Beine. Ab und zu las mir Clare ein paar Neuigkeitenhäppchen vor, dann verstummte sie wieder. Aus heiterem Himmel und ohne von ihrer Zeitung aufzusehen sagte sie, als läse sie mir erneut etwas vor: »Wahrscheinlich nimmt er gerade seinen ganzen Mut zusammen, um dich zu bitten, seinen Roman zu lesen.«
    So fangen unsere Gespräche oft an. Es dauerte einen Moment, bis mir dämmerte, dass sie John meinte. »Was denn für einen Roman?«, fragte ich. »John ist kein

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