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Sabihas Lied

Sabihas Lied

Titel: Sabihas Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Miller
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Blödsinns, den sie verzapft haben.«
    Â»Es ist nicht immer Blödsinn«, antwortete ich. »Erinnerst du dich an Caroline?«
    Â»Caroline war eine Ausnahme.«
    Â»Ausnahmen gibt es immer wieder«, sagte ich. John Patterner war ganz bestimmt kein Schriftsteller. Er hatte mit mir noch nie übers Schreiben gesprochen, ob meines, seines oder das von Dritten. Er sprach auch nicht über die Bücher, die er las. Seine Meinung behielt er für sich. Er hatte nicht einmal andeutungsweise erwähnt, ob er eines meiner Bücher kannte, und ich hatte ihn wohlweislich nicht danach gefragt – Leser, denen ein Buch gefällt, halten in der Regel mit ihrer Begeisterung nicht hinter dem Berg. Etwas anderes will man auch nicht hören. Schriftsteller reden pausenlos über ihr Schaffen. Man kann ihnen gar keinen Einhalt gebieten. Andere Themen interessieren sie nicht. John hatte sich mit keinem Wort zum Schreiben geäußert. Wie alle echten Leser war er ein stiller Mensch. Behielt seine Vorstellungen für sich. Das änderte sich nur, wenn er mir seine Geschichte erzählte. Und sogar dann blieb er eher wortkarg und diskret, wenn es um ihn und Sabiha ging. Als würde er sich selbst die Geschichte erzählen, als wollte er sie von Anfang bis Ende ergründen, auf der Suche nach einer Bedeutung, die ihm im Moment des Erlebens verborgen geblieben war.
    Wenn John und ich uns an Regentagen an unseren Stammplatz im Paradiso setzten oder bei schönem Wetter oder weil John dringend rauchen musste – er versuchte immer noch, es sich abzugewöhnen – unter die Platane auf dem Bürgersteig, gab er mir oft das Gefühl, ich wäre gar nicht zugegen. Zwar wollte er die Gewissheit haben, dass ich ihm zuhörte, aber es ging ihm nicht um meine Person. Und das schürte erst recht mein Interesse. Es war fast so, als lauschte ich an der Tür. Als hörte ich Dinge, die ich nicht hören sollte. Ich fiel ihm nie ins Wort. Niemals. Ich bedrängte ihn nie und stellte ihm auch keine Fragen. Ich wollte ihn auf keinen Fall ablenken, damit er den Faden nicht verlor. Ich hatte Angst, etwas zu verpassen. Irgendein erhellendes Detail, das helfen würde, Licht ins Dunkel seiner labyrinthischen Erinnerung und verworrenen Vorstellung zu bringen, dieser Geschichte, die er aus den verlorenen Pariser Jahren herausdestillierte. Er brauchte mich. Natürlich brauchte er mich. Ich war sein idealer Zuhörer, sein ideales Publikum. Aber er brauchte mich nur als Ohr für seine Geschichte. Damit er sie selbst verstehen lernte und dann weitermachen konnte. Ich hatte keinen aktiven Anteil daran. Ich war nicht sein Souffleur. Es war seine Beichte, und er brauchte von mir keine Vorgaben.
    Wenn ich anschließend dann nach Hause komme, gehe ich gleich nach oben, setze mich an meinen Schreibtisch mit Blick auf den Park und arbeite meine Notizen aus. Das macht mir unglaublich Spaß. Ich habe es John nie verraten. Dass seine Geschichte mir zu einem eigenen Doppelleben verhilft, ist Teil des Vergnügens, den mir die ganze Sache bereitet. Auch wenn ich es mir selbst kaum eingestehe, weiß ich doch, was hinter diesen Notizen steckt, diesen ausführlichen Zusammenfassungen, diesen Abschweifungen und Überlegungen, in die mein eigenes Leben Eingang findet – wie eine Katze, die sich in einen Schrank hineinschleicht und dort einschläft. Mit diesem heimlichen Eindringen in seine Geschichte behaupte ich meine Rechte als Zuhörer. Ich bin nämlich der Ansicht, dass jemand, der eine Geschichte erzählt, sie zugleich weitergibt. Die Geschichte ist eine Gabe. Sie geht in den Besitz des Zuhörers über. Sie wird ihm anvertraut. Weil derjenige, der die Geschichte erzählt, darauf angewiesen ist. Er will sie an seinen Zuhörer loswerden. So wie ein Schriftsteller seine Werke an einen Leser loswerden will. Ich bin mir durchaus bewusst, dass ich mit diesen Notizen die Geschichte von John und Sabiha auf meine Weise umgestalte, dass sie zu etwas anderem wird als die Geschichte, die sie kennen. Dass ich sie nach meinen Vorstellungen erschaffe. Das ist einfach unvermeidlich.
    Ein Schriftsteller kann nicht willkürlich entscheiden, was er schreibt. Wir können nur nehmen, was sich uns anbietet. Was uns begegnet. Ich nenne es gern Zwiesprache mit dem Unbewussten. Man folgt den Vorgaben der Fantasie, aber sie müssen sich von allein zeigen, sie dürfen nicht erzwungen werden. Das liegt in

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